Die Guten und die Bösen

Wir, die mittelalten und älteren Semester, sind in einer Diskussionskultur gross geworden, in der das bessere Argument zählte. Heute ist es anders. Heute zählt nicht mehr das bessere, sondern das moralischere Argument. Wem es gelingt, seinem Anliegen, seiner Weltsicht, seinem Lebensentwurf die Aura des moralisch Richtigen zu verpassen, steht auf der richtigen Seite. Argumente braucht es nicht mehr, nur den moralischen Appell. Und wer sich davon nicht ansprechen lässt, ist böse.

 

Heute stehen wir im weltanschaulichen Ringen zwischen Gut und Böse. Da sind die bösen Autofahrer. Die bösen Fleischfresser. Die bösen Jäger. Die bösen Migrationskritiker. Die bösen Wirtschaftsvertreter. Die bösen Bauern, die die Umwelt verpesten. Die bösen Gendersternchen-Verweigerer. Ihnen gegenüber steht die Phalanx jener, die gut sind, weil sie mit ihrem Wohlverhalten und ihrer edlen Gesinnung die Welt retten.

 

Von den «Bösen» werden aber auch die «Guten» nicht geschont – sie müssen sich schon mal anhören, dass sie die Welt verbessern wollten, ohne von der Welt viel zu verstehen. Dass sie eben «Gutmenschen» seien, abgehoben, weltfremd und ideologisch aggressiv. Hier die Guten, da die Bösen. Und umgekehrt. Wer in diesem Kampf das grössere Moralgeschütz in Stellung bringt, hat gewonnen.

 

Woher kommt diese neu erwachte Lust am Moralischen? Vermutlich aus einem Gefühl der Einsamkeit und Orientierungslosigkeit. Noch vor fünfzig, sechzig Jahren, zur Zeit unserer Eltern und Grosseltern, wurde die Gesellschaft zusammengehalten von moralischen und ethischen Leitsätzen, die im Christentum wurzelten und von der Kirche als allgemein anerkannter Institution verwaltet wurden. Dann kam die 68er-Jugendrevolte und mit ihr die Zertrümmerung überlieferter Wertvorstellungen. Auf diesem Boden wuchs ein Individualismus, der in den 1980er- und 1990er-Jahren immer hemmungs- und auch orientierungsloser wurde. In der Glut der Selbstentfaltung schmolz auch der letzte Rest eines gemeinsamen Wertesystems dahin. Alles ist möglich, sei du selbst, nimm, was du brauchst, kümmere dich nicht darum, was die anderen über dich denken.

 

Dass eine Gesellschaft, die aus Tausenden von höchst individuellen und unantastbaren Welten besteht, keine Gesellschaft ist, drang zu Beginn des Millenniums nach und nach wieder ins allgemeine Bewusstsein. Um zu kitten, was noch zu kitten ist, greift man nun zur guten alten Moral: Hier gut, da böse. Wer gut ist, darf dazugehören, wer böse ist, wird geächtet oder mit der Moralkeule gleich erschlagen – Moral als Bindemittel einer zerfallenden Gesellschaft.

 

Auffallend ist, dass der neue moralische Kanon immer noch der alte ist. Er stammt aus der Bibel und dem christlichen Lehrgebäude. Die Bibel kennt man zwar nicht mehr, und vom Christentum hat man sich verabschiedet. Eine vage Erinnerung an die biblische Moral ist immerhin geblieben, und sie dient jetzt als säkulare Wunderwaffe im endzeitlichen Kampf der Guten gegen die Bösen.

 

Leider bleibt dabei so manches, was die «abendländische», von Christentum und Aufklärung geprägte Ethik fordert, auf der Strecke: Zuhören, Verständnis, Mitgefühl, Respekt. Lieber hält man es in einer zunehmend komplexen und schwer zu durchschauenden Welt mit den plakativen Forderungen der mosaischen Gesetzestafeln: Du sollst, du sollst, du sollst… Dabei mutiert die Gesellschaft zu einer kleinkindlichen Spielwiese, wo die Guten zusammen spielen und die Bösen abseits stehen. Auf diesem Spielplatz habe ich nichts mehr verloren. Ich fürchte, ich würde mich häufiger bei den Bösen wiederfinden, als mir lieb ist…