Das Gottesurteil

Grimmbald der Wanderer war da, eine sonderbar geduckte, moosige und pelzige Gestalt. Da waren auch Irrwitz der Narr, Alban der Stelzenläufer und Melusina, das leichtgeschürzte, wohlgerundete Tanzweib, das sich zur schnarrenden und dudelnden Musik der Gruppe «Satansbrut» einladend wand.

 

An Verkaufsständen gab es Lederwaren, nachgefertigte Hieb- und Stichwaffen, Ritterrüstungen, traditionell gebraute Tränke, magische Halbedelsteine, bunte Gewänder und anderes mehr zu sehen. Gleich neben dem Markt war ein kleines Zeltlager aufgebaut, wo kriegerisch gekleidete Männer mit Streitkolben, Schwertern und Äxten vorsichtige Schaukämpfe austrugen, am offenen Feuer Fleisch brieten, Lieder grölten und mit Wein fleissig die Gurgel netzten.

 

Der Verein, der alljährlich in Burgdorf, der Stadt im Emmental, mit vielen Darstellenden im Sommer ein grosses Mittelalter-Spektakel durchführte, hatte im Internet und der Presse auch heuer zum Event auf der Schützenmatte geladen. Die Besucherinnen und Besucher waren dem Ruf in Scharen gefolgt, viele von ihnen ebenfalls verkleidet als Ritter, sexy Hexen, Barden, Schäfer, Bäuerinnen, aber auch als schuppig geharnischte Fantasyhelden mit barbarischen Turmfrisuren und Waffen, die eher Motorsägen als Schwertern glichen.

 

Auch Kevin, Jan, Tobias, Julia und Nadine waren da. Sie trugen nicht historische Tracht, sondern das, was Gymnasiasten in ihrem Alter eben so trugen: Jeans, Shirts, Turnschuhe. Sie sassen seit gut einer Stunde in Theobalds Metschenke unter freiem Himmel und hatten vom berauschenden Honigwein bereits einiges intus.

 

Julia, die Klassenschönheit, schmiegte sich an den Winnertypen Kevin, bedachte aber ab und zu auch den verschlossenen, belesenen und musisch begabten Jan mit einem interessierten Blick. Dieser war, wie praktisch jeder Junge in der Schule, heftig in Julia verknallt, ging aber davon aus, dass sie nur ein wenig mit ihm spielte.

 

Jan und Kevin mochten sich halb, und halb waren sie auf Distanz. Jan bewunderte Kevins selbstbewusstes Auftreten, zugleich neidete er ihm den Erfolg bei den Mädels. Kevin seinerseits fand Jan trotz dessen Eigenbrötelei, die zuweilen dünkelhafte Züge annehmen konnte, soweit in Ordnung und duldete ihn gönnerhaft in seinem Gefolge.

 

«Kommt, nehmen wir noch eine Runde, lasset uns saufen und guter Dinge sein», sagte Jan. Er hatte, vom Met beflügelt, seine übliche Zurückhaltung abgelegt.

 

Unter dem Beifall der anderen orderte er eine weitere Füllung der Trinkhörner. «Prost!» Man setzte an und trank. «Hört mal gut zu, Girls und Boys», ergriff Jan wieder das Wort. Er lallte bereits ein wenig, hatte sich äusserlich aber noch einigermassen im Griff. «Das hier ist ja alles schön und gut, hübsch und fein undsoweiter. Aber etwas fehlt mir, fehlt mir ganz und gar.»

 

«Was denn?», wollte Tobias, der coole Hiphop-Typ, wissen. «Seht euch doch um», sagte Jan und deutete auf das bunte Treiben. «Alles nur gespielt, nichts ist echt. Und das stört mich, verflixt nochmal, das stört mich krass. Lasst es uns echter machen.»

 

Julia schenkte Jan einen erneuten Augenaufschlag und fragte: «Echter machen – wie denn?» Jan hieb mit der Faust in die Luft: «Authentischer, wirklicher.» «Blabla», machte Tobias und rülpste. Kevin grinste nur.

 

Jan zog verärgert die Brauen hoch. «Nein, ich meine es ernst. Meine Idee ist die: Kevin und ich, wir treten gegeneinander zu einem Schwertkampf an.» «Na und? Sowas sieht man hier ja laufend», sagte Nadine. Jan erwiderte: «Ja, schon, aber ich denke nicht an eines dieser arschlahmen Scheingefechte, bei denen keiner auch nur eine Schramme abkriegt, sondern an ein Gottesurteil.»

 

Nun hörte auch Kevin interessierter hin, denn immerhin hatte sich Jan ihn zum Gegner erkoren. «Gottesurteil?» «Ja, Mann, hast du nicht zugehört im Geschichtsunterricht? Wenn der Kaiser einen Gerichtfall hatte, der ihm zu heiss war, liess er die beiden verkrachten Männer einfach gegeneinander kämpfen. Man glaubte, dass Gott dem, der im Recht war, den Sieg schenken würde. Deshalb nannte man das ein Gottesurteil. Mann gegen Mann, öffentlich im Ring. Auf Leben und Tod. Leute, das ist echt, das ist das volle Leben! Na ja, in der Regel gewann natürlich einfach der Wendigere oder Stärkere.»

 

«Voll räudig!», rief Tobias begeistert. «Ein Gottesurteil! Das ist es, was hier noch fehlt. Auf denn, ihr Recken, tretet an zum Kampf!» Er hob das Trinkhorn und nahm einen Schluck.

 

«Und wie stellst du dir das vor?», wollte Kevin von Jan wissen. Dieser erklärte: «Ich gehe zu den Veranstaltern und sage, dass wir ein Gottesurteil durchführen. Die lassen uns auf jeden Fall kämpfen und haben sogar Freude. Ihr müsst nämlich wissen: Diese Freaks nehmen das Mittelalter sehr, sehr ernst, die steigern sich an ihren Festen voll in die dunklen Jahrhunderte hinein. Die kommen für ein paar Tage gar nicht mehr aus ihrer Rolle heraus.»

 

Kevin war noch immer nicht begeistert. «Angenommen, wir kämpfen. Und was dann?» «Nichts dann. Einer wird gewinnen, einer unterliegen.» «Wie meinst du das?» «Wie ich es sage. Es kann nur einen geben.» «Also Klartext jetzt – wer hat wann gewonnen?» «Oh Mann, hast du eine lange Leitung. Es geht ums Ganze. Ein Gottesurteil. Ein Kampf auf Leben und Tod. Capito?»

 

«Sag mal, bist du vom Affen gebissen?», fragte Nadine. «Ich meine – ihr könnt euch doch nicht wirklich mit den Schwertern zerhacken.» «Natürlich können wir. Wir befinden uns schliesslich im Mittelalter», beharrte Jan. «Du spinnst», sagte Kevin. Jan lächelte fein. «Angst?» «Sicher nicht.» «Also – worauf warten wir noch?» «Und was soll der Gewinner davon haben?» «Sagen wir – die Gunst der schönen Frau, wie an Ritterturnieren so üblich.»

 

Julia, die ahnte, dass sie gemeint war, kicherte halb geschmeichelt, halb nervös. Kevin blickte finster, nickte dann aber und sagte entschlossen: «Dann los.»

 

Die fünf verliessen die Schenke. Wie Jan vorausgesagt hatte, war der krummbeinige Kastellan, der für den Kampfplatz zuständig war, sofort bereit, die beiden jungen Männer in ehrenvollem Schwertkampf gegeneinander antreten zu lassen. Seine einzige Bedingung war, dass sich die Duellanten vorher standesgemäss einkleideten, denn das Spektakel sollte schliesslich möglichst echt wirken.

 

«Echt wird es bestimmt», versicherte Jan. Er liess sich ein Kettenhemd, einen Waffenrock, einen normannischen Helm mit Nasenschutz und ein Kreuzfahrerschwert aushändigen, Kevin verwandelte sich in einen mongolischen Krieger mit Filzwams, Lederharnisch, Kegelhelm, engen Reithosen, hohen Stiefeln und schlankem Krummschwert. Bevor Jan den Kampfplatz betrat, verbarg er als zusätzliche Waffe noch rasch einen Dolch unter dem Waffenrock, denn er wollte gewinnen, um jeden Preis.

 

Als er aus der Waffenkammer trat, wäre er fast über Irrwitz den Narren gestolpert, der sich übertrieben vor dem Ritter verneigte und näselte: «Entschuldigt, hoher Herr, entschuldigt meinen nichtswürdigen Anblick, ich entferne mich ohnverzüglich aus Eueren gestrengen Augen und wünsche Euch für den Kampf alles Gute. Auf dass dem Gerechten der Sieg winke.» Irrwitz verneigte sich abermals katzbuckelnd und suchte sich am Kampfrund, wo sich bereits eine stattliche Zuschauermenge eingefunden hatte, einen Platz.

 

Jan und Kevin standen sich auf dem mit Sägemehl bestreuten Duellplatz gegenüber. Der Kastellan fungierte als Kampfrichter. Ein Herold verlas in geschwollenem Ton die Kampfregeln. Dann trat er an den Rand des Rings neben den Kastellan und die vier Kriegsknechte, die Aufsicht übten. «Der Kampf möge beginnen!», dröhnte der Richter.

 

Jan und Kevin, beide ungefähr gleich gross und stark, umschlichen sich lauernd und liessen schliesslich die Schwerter gegeneinanderprallen, langsam und vorsichtig wie bei einem Scheinkampf. Plötzlich aber verpasste Jan seinem Gegner einen seitlich gegen den Hals geführten Hieb, in den er alle Kraft gelegt hatte und der Kevin mit einem raschen Heben der Klinge gerade noch parieren konnte. Sofort legte Jan nach und liess einen weiteren kräftigen Hieb folgen, diesmal weiter unter angesetzt und von Kevins Schwert wiederum knapp abgefangen.

 

«Spinnst du?», fragte Kevin zornig. Sein Metrausch war längst verflogen. Doch Jan schwieg und hob seine Waffe mit eiskaltem Blick zu einem weiteren Schlag. Nun ging Kevin die ganze schreckliche Wahrheit auf: Jan meinte es ernst mit dem Gottesurteil. Dies hier war ein Kampf auf Leben und Tod.

 

Und da! Jan brachte nach einem Täuschungsmanöver einen blitzschnellen Hieb an Kevins rechtem Unterarm an, der vom Filzärmel nur unzulänglich geschützt war. Kevin strauchelte, die Wunde platzte auf und blutete. Der Verletzte liess das Schwert fallen, krümmte sich im Schock und griff nach seiner Wunde. Jan hob das Schwert zum tödlichen Streich. Die Menge schrie…

 

«Kampfrichter, gebietet Einhalt, der Sieger hat die Regeln verletzt! Ich habe gesehen, wie er in der Rüstkammer heimlich einen Dolch einsteckte! Nach dem Brauch gehört er schwer bestraft», schrie plötzlich eine schrille, den Lärm übertönende Stimme. Sie gehörte Irrwitz dem Narren, der sich aus dem Publikum gelöst hatte und aufgeregt vor den Kastellan trat. Dieser gab seinen vier Kriegsknechten unverzüglich einen Wink.

 

Ein paar Augenblicke später stand Jan bereits entwaffnet vor dem Kampfrichter, während man den verletzten Kevin zur Pflege in ein Lagerzelt führte. Der Dolch, den Jan versteckt im Waffenrock trug, war schnell gefunden, und der Kastellan schnauzte: «Schande über Euch, Ritter! Man hat Euch vor dem Kampf über die Regeln ins Bild gesetzt. Erlaubt ist einzig das Schwert. Wer sich darüber hinwegsetzt, wird einen Kopf kürzer gemacht. Das Urteil soll vollzogen werden. Man führe den Gefangenen ab!»

 

Die Kriegsknechte banden Jan die Hände und führten ihn zur Exekutionssstätte, die man zwanzig, dreissig Meter vom Kampfplatz errichtet hatte. Die Mittelaltertruppe führte zum Ergötzen der Besucher alle zwei Stunden mit viel Hallo einen historischen Schauprozess durch, und die Gelegenheit, spontan eine weitere Hinrichtung zu inszenieren, wollte man sich nicht entgehen lassen.

 

Zahlreiche Besucher schlossen sich an, ein Umzug entstand. Jan genoss das Aufsehen. Er lächelte und blickte stolz um sich. Endlich stand er im Mittelpunkt, wie er es sich schon immer gewünscht hatte. Als einziger dieser Schmalspur-Mittelaltergemeinde hatte er nicht gespielt, sondern richtig gekämpft, und dafür bewunderten ihn nun bestimmt alle, die es gesehen hatten.

 

Die Gewissheit, dass seine Enthauptung nur zum Schein stattfinden würde, beruhigte ihn allerdings nur teilweise, denn der Anblick des Hackklotzes auf dem Richtplatz hatte etwas Beängstigendes, und der maskierte Henker mit seinem nackten, muskulösen, behaarten und schwitzenden Oberkörper wirkte auch nicht wirklich erfreulich.

 

Doch Jan wollte seine Rolle zu Ende spielen. So liess er sich denn in Gottes Namen die Augen verbinden. Er legte seinen Hals, der im echten Mittelalter nun bald zerteilt worden wäre, in den Klotz, hörte sich geduldig den Zuspruch des eilends herbeigerufenen Kräutermönchs an und wartete auf den Moment, wo man ihn wieder losbinden und zurück in die applaudierende Besucherschar entlassen würde.

Der Priester hatte geendet. Die Gaffer standen still da und hielten den Atem an. Der Henker fasste das Richtschwert fester und nahm Mass. Er hatte vor, sein Bestes zu geben, denn er gehörte zu jenen Begeisterten, die das Mittelalter sehr, sehr ernst nahmen und für ein paar Tage jeweils nicht mehr aus ihrer Rolle herauskamen.

 

Er hob das Schwert. Er fühlte es in all seinen Muskeln: Dies würde ein guter Schlag werden.

 

© Hans Herrmann

Erschienen in: Mordsgeschichten aus dem Emmental (Anthologie), Landverlag 2017