Genau hinschauen

Wir leben in Zeiten erhöhter Aufmerksamkeit. «Genau hinschauen» lautet das aktivistische Motto. Dies zum Zweck, moralisch, politisch und weltanschaulich angeblich Falschgewickelte aufzuspüren, an den öffentlichen Pranger zu stellen und sozial zu ächten. «Genau hingesehen» wird unterdessen so gründlich, dass man sich in der Öffentlichkeit auf einem wahren Minenfeld wähnt, auf dem einem jederzeit etwas um die Ohren fliegen kann.

 

Haben Sie brav das Bekenntnis abgelegt, dass der biologische Dualismus von Mann und Frau bloss eine patriarchale Lüge ist und es so etwas wie Mann und Frau in Wirklichkeit gar nicht gibt? Das Auto gehorsam verschrottet? Den nachbarschaftlichen Verschwörungstheoretiker überführt und mit Bann belegt? Verlangt, dass das Indianerbild an der Schulhauswand zu entfernen sei?

 

Und weiter: Konsequent Sojamilch anstelle von Kuhmilch getrunken? Glaubhaft beteuert, mit der christlichen Religion nichts am Hut zu haben? Ganz sicher keine «Mikroaggression» verübt? Sich von machohaften Rockmusikern gebührend distanziert? Und hoffentlich stets die Ansicht vertreten, Bleichgesichter hätten keine Rastas zu tragen, da dies nur Menschen mit dunklerer Hautfarbe vorbehalten sei?

 

Falls Sie alles mit Ja beantworten können, gebührt Ihnen eine herzliche Gratulation. Dann gehören Sie zu den Tadellosen und haben von denen, die «genau hinschauen», nichts zu befürchten.

 

Müssen Sie diese Fragen aber mehrheitlich mit Nein beantworten? Dann sind Sie des Teufels und kriegen die Keule übergezogen. Oder halten Sie es manchmal so, manchmal so? Pfui Teufel, dann gehören Sie zu den Lauen, die keine Linie haben vor dem Angesicht Gottes, der da heisst «Die Grosse Moral».

 

Die, die «genau hinschauen», das sind die neuen Moralisten. Ich war mal der Ansicht, dass wir die krude Moral längst durch eine differenzierte, situationsbezogene Ethik ersetzt hätten. Das scheint in der Handhabe allerdings, wie sich jetzt herausstellt, die meisten zu überfordern. Deshalb setzt man wieder auf die Moral – auf eine platte Vernichtungsmoral, die sich an einem überempfindlichen Zeitgeist orientiert.

 

Die «genau hinschauenden» Jakobiner der postmodernen Revolution sind Eiferer, die im Endziel die alte Gesellschaft mitsamt ihren Traditionen, Vorstellungen, Werten und Konventionen beerdigen wollen. Manche tun es aus purer Lust am Schwingen des Abbruchhammers. Andere meinen es gut und wollen, dass alles besser wird. Wäre aber die neue Welt, die ihnen vorschwebt, wirklich eine bessere Welt? Lasst uns «genau hinschauen».