Vier Wochen nach meiner Unterredung mit Herrn von Seltenbach – nun ging es bereits auf Ostern zu – war wiederum eine literarische Soiree beim Autohändlerehepaar am Parkweg angesagt. Diesmal war es Gothein, der aus dem Werk von Stefan George vorlesen sollte. Geladen waren ungefähr dreissig Gäste. Es herrschte, im Gegensatz zum letzten Mal, eine sonderbar vibrierende Stimmung. Die Damen sprachen in einem geheimnisvoll raunenden Ton, und die Herren trugen feierliche Mienen zur Schau und gefielen sich in besonders geistvollen Erörterungen.
«Was ist hier eigentlich los, Peter?», fragte ich Gothein. «Man könnte meinen, der Papst würde demnächst auftauchen.» «Das nun nicht gerade», antwortete Gothein, der den Band «Pilgerjahre» aufgeschlagen hatte, um sich auf die Lesung vorzubereiten. «Aber der Meister ist hier im Haus. Die Leute wissen es und sind entsprechend aufgeregt.»
«Und warum wissen es alle und nur ich offenbar nicht?» Ich war ein wenig verletzt, denn ich glaubte mich dem Meister näher fühlen zu dürfen als die meisten hier. Ich hatte ihn zwar noch nie gesehen, aber bitte sehr, ich verkehrte immerhin im Kreis, wenn auch noch eher lose.
Peter lachte. «Beleidigt? Jetzt wissen Sie es ja. Ich selber erfuhr es auch erst heute Morgen. Der Meister ist ein wahrer Virtuose im Auftauchen und Abtauchen. Plötzlich ist er da, und ebenso plötzlich verschwindet er wieder, wie ein Geist aus einer anderen Dimension. Niemand kann vorhersagen, wann er wo in Erscheinung zu treten gedenkt. Wenn er aber irgendwo anklopft, stehen ihm die Türen immer offen.»
«Wird er heute Abend lesen?» «Nein, nur ich. Er ist oben in einem Zimmer, dort wird er den Abend verbringen und vielleicht jemandem eine Audienz gewähren, wenn ihm danach ist.» Peter gebrauchte die Redewendung «eine Audienz gewähren» ohne jede Ironie; das zeigte, dass der Meister in den Augen seiner Jünger die Stellung eines Fürsten innehatte. Also doch der Papst – gewissermassen.
Peter las nur fünf Gedichte, aber die Gäste gaben sich höflich damit zufrieden. Jedes einzelne Gedicht war wertvoll, dankbar nahm man entgegen, was einem zuteil wurde, und hütete sich, dreist nach mehr zu verlangen.
Nach der Lesung und der anschliessenden Diskussion, an der ich mich diesmal nicht beteiligte, lud das Gastgeberehepaar zu einem ungezwungenen Imbiss, den man in verschiedenen Räumen an kleinen Tischen einnahm.
Ich teilte einen Tisch mit zwei Musikern des Basler Sinfonieorchesters und einem regional bekannten Kunstmaler. Beim Kaffee tauchte plötzlich Peter auf. Nach der Diskussion war er verschwunden, ohne sich zu verabschieden. Ich nahm an, dass er sich oben beim Meister aufhielt.
Nun beugte er sich zu mir herunter und raunte mir ins Ohr: «Hätten Sie einen Augenblick Zeit für mich? Ich soll Ihnen etwas ausrichten. Aber nicht hier. Draussen im Foyer, wo uns niemand hört.» Ich entschuldigte mich bei den drei Herren und folgte Peter ins Foyer. «Nanu, was steht an?»
Peter vergewisserte sich, dass uns niemand belauschte, und sagte dann in immer noch verschwörerischem Tonfall: «Es soll uns keiner hören, sonst wollen alle zu ihm. Dazu hat er aber keine Lust. Er will heute nur Sie kennenlernen. Ich soll Sie zu ihm hinaufschicken. Zweite Etage, zweite Tür links. Einfach anklopfen und auf sein ‹Herein› warten.»
Bei diesen Worten durchflutete mich eine heisse Woge der Aufregung. Heute sollte ich also den Meister, den grossen Magier der Worte, einen der grössten Lyriker seiner Zeit, kennenlernen!
(…)
(Hans Herrmann, aus: «Das Jahr des Jüngers», Scratch Verlag, 2019)