Die silberne Schlange

In einem Häuschen am Fluss, nicht weit von den vier steilen Sandsteinfelsen, lebte ein Korbflechter mit seiner Frau und seiner Tochter. Die Leute waren zu arm, um in der Stadt wohnen zu können, und die besten Bauplätze ausserhalb der Stadtmauern waren bereits von den reichen Bürgern besetzt, die hier ihre Sommerhäuser errichtet hatten.

 

Armen Leuten blieb in jenen Zeiten nichts anderes übrig, als in der Nähe des Wassers zu bauen und zu hoffen, dass der Fluss nach einem Gewitter ihre Häuser nicht überschwemmte. In der Nähe der Korberfamilie lebte, ebenfalls in einem dürftigen Hüttchen nahe am Fluss, ein armer Holzfäller.

 

Eines Tages entdeckte das Korbermädchen im Garten eine kleine silberne Schlange mit einem Krönchen auf dem Kopf. Die Schlange wirkte müde und entkräftet. «Gibt mir etwas zu trinken», bat die Schlange das Mädchen mit feiner Stimme.

 

Das Mädchen füllte einen Napf mit Milch, den die Schlange bis auf den letzten Tropfen leerte. «Euer Nachbar, der Holzfäller, hat mir nichts geben wollen, aber du hast mir geholfen», sagte die Schlange. «Du hast ein gutes Herz. Folge mir, ich will dich belohnen.»

 

Das Mädchen folgte der Schlange in den Schachenwald. Am Fuss des vierten Sandsteinfelsens deutete die Schlange mit dem Kopf auf eine Felsritze, die hinter einem Gebüsch verborgen war, und sprach: «Greife in diesen Spalt und fülle deine Hand mit dem, was du darin findest.» Das Mädchen tat, wie ihm geheissen, und zog eine Hand voll Samenkörner hervor. Sie waren aus purem Gold.

 

«Säe die Körner in einem grossen Kreis rund um euer Haus, du wirst es nicht bereuen», sagte die Schlange, winkte zum Abschied mit dem Schwanz und verschwand blitzschnell in den dichten Stauden. Das Mädchen ging nach Hause und befolgte die Anordnung der Schlange.

 

Der Nachbar aber, von Neugier getrieben, war dem Mädchen und der Schlange heimlich zum Felsen gefolgt und hatte aus einem Versteck alles gesehen und gehört. Als die Schlange und das Mädchen verschwunden waren, kam er aus seinem Versteck hervor, schlich zur Felsritze und griff hinein.

 

(…)

 

(Hans Herrmann, aus «Burgdorfer Märchen», 2005)