Sechzig Männer habe ich getötet, als ich ein junger Mann war. Heisst es. Sechzig Samurai, alle mit guten Katanas bewaffnet und in den Kampfkünsten trefflich geübt, während ich nur mit selbst geschnitzten Holzschwertern zu fechten pflegte. Ich, Miyamoto Musashi, der herrenlose Samurai, der als umherziehender Ronin die besten Kämpfer im Reich der aufgehenden Sonne zum Zweikampf forderte und sie im Lauf der Jahre alle schlug. Heisst es.
Was ist Wahrheit? Das, was sich viele Menschen so lange erzählen, bis es allgemein als wahr anerkannt ist? Oder das, was sich ein Einzelner ausdenkt und so lange weitergibt, bis er es selber glaubt?
Wahrheit ist ein Schattenwesen, körperlos, wandelbar und nicht zu fassen. Man darf Wahrheit nicht mit Erkenntnis verwechseln. Wahrheit ist wertlos, nur Erkenntnis zählt. Erkenntnis wird dem Sitzenden zuteil, nicht dem Eilenden, nicht dem Drängenden, nicht dem Wollenden. Ich sitze.
Ein alter, kranker Mann in seinem zweiundsechzigsten Lebensjahr, der sich vor dem Treiben der Welt in die Höhle Reigando bei der Stadt Kumamoto zurückgezogen hat. Hier verbringe ich stille Tage, blicke über die bewaldeten Hügel und versenke mich tief in mein Inneres, wie es Buddha gelehrt hat.
Manchmal esse ich einen kleinen Happen, den mir alle zwei, drei Tage ein Mönch vom nahen Kloster heraufbringt. Mehr brauche ich nicht. Den Durst lösche ich aus der kühlen und klaren Quelle, die ein paar Schritte neben meiner Höhle einer moosigen Spalte entspringt und sich in ein natürliches kleines Becken im Fels ergiesst.
Ich sitze. Sitze und lasse mein ganzes Leben an mir vorüberziehen. Und streife im Angesicht meines baldigen Todes endlich die grosse Lüge ab, die die Wahrheit über meine Person verstellte. Jene, die nach mir kommen, sollen die Wahrheit erfahren, sollen Wort für Wort lesen, dass ich nicht der war, den man aus mir gemacht hat und der ich zu sein vorgab.
Ich war mitnichten ein grosser Schwertmeister. Ich war kein Ronin auf heiliger Kampfwanderschaft. Ich habe keine sechzig Samurai getötet. Nur einen – und mich dazu. Denn ist nicht der tot, der nicht ist, der er ist?
Deshalb schreibe ich die Geschichte meiner grossen Lüge auf, in Tusche und mit sorgfältigen Pinselstrichen, die mir als Kalligraf und Kunstmaler noch immer leicht aus der alten Hand fliessen.
Eine milde Sonne wärmt das Land im Monat Yatsuki des Jahres Kigen 2305. Nach der Rechnung der Jesuitenpriester, die noch vor dreissig, vierzig Jahren vielerorts auf unseren Inseln die abendländische Religion des Kirisuto verkündeten, ist es das Jahr 1645.
Über Nacht haben sich die Kirschblüten geöffnet. Kirschblüten! Zum letzten Mal ist es mir vergönnt, mein Auge an dieser Pracht zu weiden. Zum letzten Mal, denn ich fühle den Tod nahen. Bald wird der Lebensatem aus meinem Leib weichen, und Buddha Amida wird mein Selbst gnädig ins Reine Land geleiten.
Bevor es so weit ist, habe ich aber noch etwas aufzuschreiben. Ich muss mich beeilen. Wie lange bleibt mir noch? Werde ich die Blüte der Bauernrose noch erleben? Oder gar das Zirpen der Grillen in lauen Sommernächten? Wohl kaum. Die Zeit drängt. Ich tauche den Pinsel ein und beginne mit der Niederschrift der grossen Lüge, die sich in Wahrheit auflösen möge. So hört denn.
Meine ersten Kinderjahre verbrachte ich in einem kleinen Fischerdorf am Nordufer der Insel Honshu. Damals hörte ich noch auf den Namen Bennosuke. Die Menschen um mich herum waren so, wie Menschen sein sollten: einfach und ungehobelt, knorrig wie Stücke vom Wurzelholz, gesellig und von fröhlicher Unschuld. Man kann diesen Schlag nicht hoch genug schätzen.
Mein Vater war Fischer und Kleinbauer wie alle anderen im Dorf. Schon in frühesten Jahren erlernte ich den Umgang mit Boot und Netz, aber auch die Kunst des Reispflanzens und das Einspannen der starken Wasserbüffel.
An Kraft mangelte es auch mir selber nicht; früh schoss ich in die Höhe und setzte Muskeln an. Bereits als Zwölfjähriger konnte ich es beim Ringen mit jedem erwachsenen Dorfbewohner aufnehmen, und als Erwachsener war ich jederzeit und überall einen Kopf grösser als die grössten meiner Zeitgenossen.
Fischer wollte ich nicht werden, auch zum Beackern der Reisfelder verspürte ich keine Neigung. Deshalb bat ich meinen Vater, zum Kalligrafen Kazuaki in die Lehre gehen zu dürfen.
Mein Vater hatte keine Einwände, denn erstens stand für die Übernahme von Haus und Hof ein jüngerer Bruder bereit, und zweitens haftete dem Beruf des Schönschreibers ein heiliger Glanz an, dem sich auch die künstlerisch unbedarfte Natur meines Vaters nicht ganz und gar verschliessen konnte.
Also zog ich drei Tage nach meinem dreizehnten Geburtstag mit Billigung meiner guten Eltern los, um mich bei Meister Kazuaki vorzustellen. Er fand an meiner geschickten Hand Gefallen – und vielleicht ebenso an meiner Grösse und Kraft, denn der Meister war bejahrt und gebrechlich, und in jenen unruhigen Zeiten war es für einen alten Mann ganz gut, einen jungen Beschützer um sich zu wissen.
Fortan also lebte und lernte ich unter meinem Jünglingsnamen Harunobu im Bauern- und Handwerkerdorf Miyamoto, das sich von meinem Heimatdorf nur darin unterschied, dass es nicht ans Meer grenzte. Die Häuser, Felder und Gärten waren dieselben wie im Ort meiner Kindheit und die Menschen ebenso ungeschliffen.
Mein Meister hingegen war feinsinnig und milde. Mit unversiegbarer Geduld unterwies er mich in seinem Handwerk und führte mich Schritt für Schritt in dessen Geheimnisse ein. Ich lernte, dass Schönschreiben nicht Kunst, sondern Meditation ist und nur von dem würdig ausgeübt werden kann, der sich mit all seinem Sinnen und Trachten darauf konzentriert.
«Man soll seine Arbeiten gründlich erledigen», pflegte mein Meister zu sagen. Und: «Man soll nichts auf die leichte Schulter nehmen.» Diese einfachen, aber tiefen Worte beherzigend, wurde ich nach und nach ein Könner im Umgang mit Bambuspinsel, Tusche und Reispapier; die Schriftzeichen flossen mir geschmeidig aus der Hand entfalteten auf der weissen Fläche ein Eigenleben wie Zierfische im Teich. Meister Kazuaki war zufrieden mit mir.
Eines sanften Spätsommernachmittags – es ging schon reichlich gegen Abend – suchte ein berühmter Gast das Dorf auf. Fremde waren selten in Miyamoto; meistens waren es Bettelmönche auf dem Weg zu einem Heiligtum oder fahrende Händler. Ein Samurai aber, einer dieser adligen, schwertkundigen und stolzen Krieger, hatte sich seit Menschengedenken nicht mehr in das kleine Dorf verirrt.
Es war folglich eine richtige Sensation, als an besagtem Nachmittag der beste Schwertkämpfer des Reiches, der Samurai Kihei, zwischen unseren Bambushütten auftauchte. Er befand sich wohl auf dem Weg zu irgendeinem Duell; Genaueres habe ich nie herausgefunden. Bei uns in Miyamoto schaltete er eine Rast ein. Auf dem Dorfplatz stieg er vom Pferd, gab dieses wie auch das mitgereiste, vielleicht fünfjährige, in einen leuchtend gelben Kimono gehüllte Mädchen in die Obhut seiner beiden bewaffneten Knechte und betrat stolz die einzige Gaststätte des Ortes.
Ich konnte das Geschehen von Anfang an mitverfolgen, denn zufällig war ich in der Schenke, um mit dem Wirt die Gestaltung einer neuen Beschriftung für sein Haus zu besprechen. Zu diesem Zeitpunkt stand ich kurz vor Beendung meines zweiten Lehrjahrs; mein Meister liess mir für die Ausführung einfacherer Aufträge bereits freie Hand.
In der Trinkstube hatte es nur wenige Gäste, als Kihei erschien, einfache Bauern zumeist, dann noch den Dorflehrer und den Kräutermischer. Sie verstummten beim Eintreten des Kämpfers augenblicklich, verneigten sich und verliessen einer nach dem andern still und demütig den Raum, denn es gehörte sich für Leute niederen Stands nicht, solch hohem Herrn Gesellschaft zu leisten. Kihei aber liess sich auf der Strohmatte nieder und orderte herrisch einen Reisschnaps, den ihm der Wirt katzbuckelnd kredenzte.
Ich selber hätte mich auch gerne verzogen, doch ich hielt mich beim Wirt im hinteren Gelass auf und wollte dem Samurai nicht vor die Augen treten. Bei solchen Herren wusste man nie, was einem an Ungemach widerfahren konnte. Respektvoll und widerwillig bewundernd linste ich durch eine Wandritze auf das Schwertpaar, dessen Griffe böse aus dem Obi des Adligen ragten.
Nun, aus einem Reisschnaps wurden zweie, dann drei und schliesslich vier. Es steht nirgends geschrieben, dass ein Samurai der robustere Trinker sein muss als ein gewöhnlicher Bauer, und Kihei war es definitiv nicht. Beim dritten Schnaps begann er zu singen, beim vierten zu grölen, und nach dem fünften warf er unbeherrscht ein paar Münzen auf die Matte, erhob sich abrupt und trat hinaus an die Sonne, die sich langsam gegen den Horizont neigte, um ihm den Gutenachtkuss zu geben.
Draussen warteten Kiheis Begleiter und das kleine Mädchen. Statt sich aufs Ross zu setzen, davonzureiten und das Dorf von seiner unerwünschten Gegenwart zu befreien, pflanzte der trunkene Samurai nun aber sein gelbes Banner auf dem Dorfplatz auf, stellte sich breitbeinig hin und schrie mit rauer Stimme: «He, ihr Dorftrottel, ist einer von euch so stark, dass er sich mit mir, dem berühmten Schwertkämpfer Kihei, zu messen wagt? Du dort vielleicht? Oder du? Oder etwa du?»
Er hatte das Katana, das längere seiner beiden Schwerter, gezogen und stiess damit in der Luft nach jenen, die er zum Kampf aufrief. Verständlicherweise bekundete jedoch keiner der Dorfbewohner Lust, Kiheis Einladung Folge zu leisten, zumal keiner von ihnen ein Schwert besass oder auch nur annähernd wusste, wie die Klinge zu führen war. Stattdessen verschanzten sie sich in ihren Häusern und verfolgten von dort aus ängstlich den weiteren Verlauf des Geschehens.
«Ihr Hasenfüsse, ihr Feiglinge!», dröhnte Kihei. «Ihr seid stark wie die Büffel, die eure Pflüge ziehen, und wagt es nicht einmal, gegen einen verweichlichten Herrn, wie ich einer bin, anzutreten! Tölpel, Trottel seid ihr! Aber eigentlich habe ich ja wirklich bessere Gegner verdient. Jeden Schwertkämpfer habe ich bis heute besiegt, ausnahmslos, und jeden habe ich zu den Göttern geschickt. Wo seid ihr, ihr elenden Bauerntrampel? Los, kommt schon, greift mich an, verhaut mich, meinetwegen zu dritt, wenn denn keiner von euch den Mumm aufbringt, alleine seinen Mann zu stellen! Was kann euch schon passieren? Ich trage ja nicht einmal eine Rüstung!»
In der Tat war Kihei nur mit Wams und Hakama bekleidet, trug also bloss Stoff am Leib musste jederzeit damit rechnen, von einem gut angebrachten Stock- oder Schwerthieb beträchtliche Verletzungen davonzutragen.
«Na wartet, ich werde euch schon noch zum Kampf zwingen, ihr Memmen», schrie Kihei. «Wie wärs, wenn ich eines eurer Mädchen mit meinem Schwert ein wenig kitzelte? Würdet ihr dann endlich aus eurer Starre erwachen und mir entgegentreten, damit ich euch zeigen kann, wie ein Samurai kämpft?»
Nichts und niemand regte sich. Bis auf den nahezu blinden Alten, der tagein, tagaus vor dem Hause des Kräutermischers hockte und mit still lächelndem Gesicht darauf wartete, dass ihm jemand ein Almosen in die Bettelschale legte. Er gehörte zum Dorf wie die Spatzen, Hunde, Katzen und Kinder. Er sprach kaum je ein Wort; er sass einfach da, reglos und selig wie der grosse Buddha von Kamakura. Doch jetzt, plötzlich, begann er laut zu lachen.
Der Samurai erstarrte, als hätte ihm jemand eine Ohrfeige verpasst. Dann aber loderte seine Wut erst recht auf. «Du lachst, Alter?», schrie er. «Willst etwa du gegen mich antreten? Wohl kaum. Ich würde dich als würdigen Gegner auch nie akzeptieren. Aber warum lachst du? Natürlich, du lachst mich aus, du elender Greis. Das wirst du mir büssen! Oder vielleicht stellt sich ja einer dieser mutigen Dorfbewohner vor dich hin und ist bereit, dich zu beschützen. So käme ich endlich zu meinem Kampf. Wir werden ja sehen.»
Beidhändig holte Kihei mit seinem Katana zu einem fürchterlichen Hieb aus, um den Alten zu köpfen. Dieser hatte aufgehört, laut zu lachen; stattdessen verklärte wieder das stilles Buddha-Lächeln seine faltigen Züge.
Kiheis Schwert schwebte über dem Kopf des Bettlers, das Gesicht des betrunkenen Kriegers war zu einer grässlichen Fratze verzerrt. Es hätte nur noch einen Augenblick gedauert, bis der alte Mann enthauptet niedergesunken wäre – wenn ich nicht, ohne mich lange zu besinnen, blitzschnell über das Geländer gesprungen wäre, das den leicht erhöhten Eingansbereich des Gasthauses umfasste.
Ich packte einen an der Wand lehnenden Reisstampfer, hechtete zu Kihei, der mich verdutzt anglotzte, und zog den schweren Holzhammer mit beiden Händen entschlossen auf.
Zwar setzte mein Gegner reflexartig zu einer Parade an, doch sein Schwerthieb prallte am dicken Stiel des Reisstampfers wirkungslos ab. Die Klinge zersprang in zwei Teile, und Kihei empfing meinen gewaltigen Schlag. Ich, ein einfacher Schreiberling, hatte den besten Schwertkämpfer des Reiches niedergestreckt.
Man muss aber bedenken, dass mich das unritterliche Gebaren des Samurai zuhöchst empörte und meine Angst vor dem berühmten Schwertkämpfer schwinden liess. Zudem war meine überdurchschnittliche Körpergrösse in jungen Jahren mit Büffelkräften gepaart, sodass es mir keinerlei Mühe bereitete, meinen Gegner mit einem einzigen Hieb ausser Gefecht zu setzen. Dabei wurde ihm der halbe Schädel eingedrückt; aus der klaffenden Wunde quollen Blut und ein bräunlich-grauer Brei.
Zuerst fiel das Schwert auf den Boden, dann dessen Besitzer. In einer verkrümmten Stellung lag er tot auf dem Dorfplatz, die Augen unter dem zertrümmerten Schädel weit aufgerissen vor lauter Unglauben, dass es einer der Dorfbewohner wirklich gewagt hatte, gegen ihn anzutreten.
Schweigen – einen kurzen Augenblick, eine halbe Ewigkeit? Ich stand nur da und konnte es noch immer nicht glauben, dass ich einen Schwertmeister bezwungen und dabei einen alten Mann gerettet hatte.
«Harunobu hat den Samurai besiegt!», tönte es plötzlich von einer hellen Bubenstimme. Und dann aus allen Ecken und Richtungen: «Harunobu hat den Samurai besiegt, er ist ein grosser Kämpfer!»
Jetzt, da der Wüterich darniederlag, wagten sich die Leute wieder aus ihren Häusern. Sie strömten auf den Dorfplatz, umringten mich und den Erschlagenen, beglückwünschten mich zu meinem Sieg und machten ein grosses Getöse, Männer, Frauen, Kinder, Alte, Arme, Wohlhabende.
«Heil dem starken Harunobu, der den Schwertmeister Kihei besiegt hat, Glück und Segen!» So jauchzten sie, die Leute des Dorfes, und der Alte, den ich gerettet hatte, lächelte still.
Im Gewühl konnte ich eben noch erkennen, wie die beiden Knechte des Samurai das kleine Mädchen im gelben Kimono auf das Pferd setzten. Das Tier am Zügel führend, machten sie sich im Eilschritt aus dem Staub. Sie schienen keine Lust zu verspüren, sich vom Bezwinger ihres Herrn ebenfalls den Schädel einschlagen zu lassen.
Natürlich blieb der Tod des berühmten Samurai an höherer Stelle nicht unbemerkt. Bereits zwei Tage nach meinem denkwürdigen Kampf auf dem Dorfplatz von Miyamoto erschien ein Inspektor des Bezirksverwalters im Ort. Es war ein drahtiger, wettergegerbter Mann mit grauen Haaren und einer strengen Falte zwischen den Augen. Er reiste zu Fuss und ohne Begleitung; die kraftvolle Art, wie er sich bewegte, und die beiläufige Manier, wie er sein Schwert an der Seite zurechtrückte, zeigten deutlich, dass auch er ein Kämpfer und kein Kissenhocker war.
Ich war gerade dabei, ein Tanka auf ein Rollbild zu pinseln, als der Inspektor nach kurzem Klopfen in unsere Werkstatt trat. «Bis du der Mann, der Kihei getötet hat?», fragte er ohne Umschweife, indem er mich streng, aber auch ein wenig anerkennend musterte. «Man sagte mir im Dorf, dass ich dich hier fände.»
Ich hatte fürchterliche Angst, rechnete ich doch damit, für das Vergehen der Tötung eines Adligen dem Daimyo vorgeführt und in den Kerker geworfen oder gar hingerichtet zu werden. Dennoch sagte ich, indem ich den Blick bescheiden zu Boden senkte: «Der bin ich, Herr.» Was hätte ich auch anderes sagen sollen?
Nun verlangte der Inspektor zu wissen, wie sich der Kampf genau zugetragen habe. Als ich geendet hatte, tat er etwas, womit ich nie gerechnet hätte. Er klopfte mir nämlich auf die Schulter und sagte:
«Was du berichtest, deckt sich mit dem, was ich vorhin von den Dorfbewohnern gehört habe. Kihei hat euch herausgefordert, und du hast angenommen. Weil du ihn von vorne und nicht von hinten angegriffen hast, war es ein ehrlicher Kampf und ein ehrlicher Sieg. Meine Glückwünsche – und dazu noch ein kleiner Rat: Kämpfe nie mehr gegen einen Samurai, du würdest auf jeden Fall unterliegen. Diesmal konntest nur gewinnen, weil Kihei offensichtlich zu betunken war, um noch Herr seiner selbst, geschweige denn seines Schwerts zu sein.»
Danach verliess der Inspektor die Werkstatt grusslos, wie er gekommen war, setzte sich den Hut aus Reisstroh auf und verschwand mit federnden Schritten aus dem Dorf.
Mein Ruhm als Kiheis Bezwinger wuchs von Tag zu Tag. Sogar von weither kamen Leute, um mich zu sehen und zu beglückwünschen, und allen musste ich das Katana zeigen, das ich Kihei abgenommen hatte und dem ein Drittel der Klinge fehlte.
Man bewunderte die schöne Schmiedearbeit, die kunstvolle Politur des Stahls und die Wickelung des Griffs, lobte mich für meinen Mut und trank eine Schale Tee, die mein Meister immer bereit hatte, wenn Kunden oder andere Besucher in die Werkstatt kamen.
Im Lauf der Wochen und Monate hörte ich so oft, dass ich ein grossartiger Kämpfer sei, dass ich es zuletzt selber glaubte. Auf die Probe gestellt wurde ich jedoch nie, denn unterdessen hatte sich um meine Person das Gerücht gebildet, dass ich bereits sechzig Schwertkämpfe bestanden und meine Herausforderer ausnahmslos alle getötet hätte.
Ich würde, sagte man, auf eine ganz spezielle, von mir entwickelte Art kämpfen, mit zwei Holzschwertern, die ich vor einer Begegnung mit einem Herausforderer jedes Mal eigenhändig zu schnitzen pflegte.
Tatsache aber war, dass es keine Herausforderer gab, denn welcher Samurai, und sei er noch so kühn, wollte es schon wagen, sich mit einem um einen Kopf grösseren, überaus kräftigen Wüterich zu messen, der offenbar unbesiegbar und obendrein gnadenlos war?
Ich genoss den Ruhm in vollen Zügen und ging im Übrigen weiterhin meinem Geschäft als Kalligraf nach. Ein paar Jahre später, als mein alter Meister sein Ende nahen fühlte, erklärte er mich für würdig, fortan ebenfalls den Titel eines Meisters zu führen.
Er stellte mir einen entsprechenden Brief aus und legte die Geschicke der Werkstatt in meine Hände. Nachdem er die weltlichen Dinge so zu seiner Zufriedenheit geregelt hatte, verschied er eines frühen Morgens friedlich in seinem Bett.
Die Werkstatt blühte, denn mein Ruf als Kämpfer zog die Kundschaft an, zudem darf ich bei aller Bescheidenheit sagen, dass ich mit Pinsel und Tusche gute Arbeit leistete, voll vom Geist des Zen.
Als ich die Werkstatt übernahm, legte ich mir abermals einen neuen Namen zu: Musashi wollte ich von nun an gerufen werden, mit dem Beinamen Miyamoto zu Ehren des Dorfes, das nun auch das meine war.
Damit ich doch wenigstens ein klein wenig echten Anteil hatte an der Welt der Schwertkämpfer, begann ich, mich zusätzlich zur Schreibkunst auch dem Metallhandwerk zuzuwenden. Ich versuchte mich in der Anfertigung von ansprechend gestalteten Stichblättern, jenen Metallscheiben also, mit denen die Schwertgriffe nach oben hin abgeschlossen sind und die verhindern, dass die Hand des Kämpfers in den Klingenbereich rutscht.
Nach und nach gelangen mir gute Stücke, und an Kunden, die ein Stichblatt aus der Werkstatt des grossen Schwertmeisters Miyamoto Musashi ihr Eigen nennen wollten, mangelte es nicht. Meist kamen kunstverständige Diener der edlen Herren, um bei mir ein erlesenes Stück zu erwerben, doch manchmal bemühte sich der eine und andere Samurai sogar persönlich an die Stätte meines Schaffens.
So kam es, dass ich, selber eine Berühmtheit, mit anderen Berühmtheiten aus der Gilde der Schwertkämpfer mehr oder weniger lose vernetzt war. Dass ich wirklich dazugehörte, stand für das einfache Volk fest, aber in den Augen der Samurai war ich ein Ronin, ein verdächtiger Kämpfer ohne Adel und ohne Verpflichtung zur Ehre – und vor allem ohne Herrn, dem ich in lebenslanger Ergebenheit hätte dienen können. Ich war in der Tat mein eigener Herr und niemandem sonst Rechenschaft schuldig, doch das gefiel mir wohl.
Die Jahre gingen übers Land. Ich reifte vom Jüngling zum Mann, ohne mir freilich eine Frau zu nehmen und Kinder zu zeugen, denn Meisterschaft in der Kunst bedeutet zugleich Priesterschaft, und ein Priester bleibt um seiner Sache willen besser allein.
Es war im Frühsommer, die Bauernrosen standen in voller Blüte, als mich eines Morgens eine junge Frau aufsuchte. Sie reiste in einer Sänfte, getragen von zwei halbnackten Dienern und beschützt von vier Reitern. Kein Zweifel, die Frau war von höherem Stand.
Sie betrat meine Schreibstube allein. Sie hatte das zwanzigste Altersjahr vermutlich noch nicht vollendet, war zierlich und eher klein, dazu geschmeidig wie ein Akrobat und anmutig wie eine Birke. Gekleidet war sie in einen weissen Kimono, der schlicht und einfach wirkte, aber aus teurer Seide gefertigt war. Ich verneigte mich vor ihr, bot ihr einen Platz auf der Strohmatte an und schenkte ihr eine Schale Tee ein.
«Womit kann ich dienen, edle Dame? Und mit welchem Namen darf ich Euch ansprechen?» «Ich heisse Akemi, und einen Dienst erweisen könnt Ihr mir nur, wenn Ihr der berühmte Schwertmeister Miyamoto Musashi seid.»
Ich neigte bescheiden den Kopf, aber besonders wohl war mir bei der Sache nicht, denn es sah ganz so aus, als sollte ich in irgendeiner Weise meine angebliche Tüchtigkeit im Schwertkampf erstmals wirklich unter Beweis zu stellen haben.
Sie nahm mein angedeutetes Nicken mit Befriedigung zur Kenntnis. «Ihr seid also Musashi? Gut, sehr gut. Nur Ihr könnt mir helfen, Meister, der Ihr ein Mann von Mut, Umsicht, Zielstrebigkeit und Beharrlichkeit seid. Woher ich das weiss? Aus einer einfachen Überlegung: Ohne die genannten Eigenschaften hättet ihr Eure insgesamt sechzig Herausforderer niemals bezwingen können.» Mir blieb nichts anderes übrig, als abermals bejahend den Kopf zu neigen.
«Es ist», fuhr sie fort, «allgemein bekannt, dass Schwertkämpfer ständig auf der Suche nach neuen Herausforderungen sind. Ich kann Euch eine bieten – eine, die nur vom besten Kämpfer des Reiches zu meistern ist.»
«Ihr tut mir grosse Ehre an, edle Frau, aber meine Waffe ist seit etlichen Jahren nur noch der Pinsel», wandte ich ein. Sie jedoch beharrte auf ihrem Ansinnen: «Bescheidenheit ist eine Zier, Miyamoto Musashi. Aber ich bin sicher, dass es keinen gibt, der das Schwert schneller und kraftvoller zu führen versteht als Ihr. Wollt Ihr mir nun also helfen?»
«Ich bin ganz der Eure», sagte ich gegen meinen Willen und begann zu schwitzen, während sie den Blick senkte und leise sagte: «Habt Dank, Meister. Ihr seid nämlich meine einzige Hoffnung. Ach, es ist schlimm, so schlimm… Man findet dafür kaum Worte… Meine arme, arme Schwester…» Plötzlich traten Tränen in die Augen der jungen Frau, die bisher einen selbstbewussten, ja forschen Eindruck gemacht hatte.
Sie tupfte sich mit dem Ärmel die Augen ab und begann wieder zu sprechen. Sie stamme aus der Familie eines begüterten, aber wenig einflussreichen Adligen, erzählte sie. Bei einem Pflichtbesuch der ganzen Familie am Hof des Shoguns habe ihre um drei Jahre ältere, überaus schöne Schwester Kaori das Wohlgefallen des hochgestellten Höflings Haruto erregt.
Er habe sie zu seiner Geliebten genommen, und damit habe der Leidensweg ihrer Schwester begonnen. Es habe sich nämlich herausgestellt, dass der Höfling einer jener Männer sei, denen es Lust bereite, Frauen mit raffinierten und brutalen Mitteln zu quälen.
«Er sperrt Kaori ein wie in einem Gefängnis», berichtete Akemi. «Und wenn es ihm gefällt, holt er sie aus ihrem Kerker und stellt mit ihr die abscheulichsten Dinge an. Ich weiss es aus dem einzigen Brief, den sie mit viel Glück aus dem Palast schmuggeln lassen konnte.»
«Es soll in der Tat solche Männer geben, sie sind eine Schande für den Stand der Samurai und nicht würdig, das Schwert zu tragen», warf ich schlau ein, denn gegen einen unwürdigen Gegner würde ich selbstverständlich nicht antreten wollen.
Doch Akemi schien dies nicht gehört zu haben. «Einmal hat er sie nackt gefesselt, bis zum Hals in einem Ameisenhaften vergraben und sich an ihren Schreien und Zuckungen geweidet. Ein andermal zwang er sie, sich selber an den Armen zu verletzen und das Blut abzulecken. Aber das ist noch harmlos gegen andere Dinge, von denen ich nicht berichten darf, denn ich will den Anstand wahren.»
«Ich sehe, dass es Eure Schwester mit einem Lüstling der wüstesten Art zu tun hat; wie aber kann ich Eurer Meinung nach helfen, edle Akemi?» «Indem Ihr Euch in den Palast des Shoguns in Kyoto einschleicht und meine Schwester befreit», sagte sie und blickte mich dazu so unschuldig an, als hätte sie mich nur um einen kleinen Botengang ins Nachbardorf gebeten.
Ich schluckte leer, dann gab ich ein trockenes Lachen von mir, das wie ein Bellen klang. «Einschleichen? In den Palast des Shoguns? Wenn es nur ein Palast wäre… Aber es ist die berühmte Burg Nijo, gross, gut gesichert und bestens bewacht… Ich bitte Euch, Akemi: Ihr dürft mich nicht überschätzen. Ich mag mich im einen und anderen Sinn um die Schwertkunst verdient gemacht haben, aber Unmögliches kann auch ich nicht vollbringen.»
«Gerade auf ein Wunder wagte ich allerdings zu hoffen, um ehrlich zu sein. Wer könnte denn das Unmögliche schaffen ausser der grosse Miyamoto Musashi?»
Es folgte ein längeres Hin und Her, in dessen Verlauf sie ihr Ansinnen immer flehender vortrug und ich immer kraftloser widerstand. Schliesslich befahl sie einen ihrer Reiter in die Werkstatt, der ein röhrenförmiges Behältnis aus Bambus bei sich hatte. Akemi entnahm dem Köcher ein eng gerolltes Papier und breitete es auf meiner Schreibplatte aus.
Es war der sorgfältig gezeichnete Plan einer grossen Gebäude- und Gartenanlage, eingeteilt in einen inneren und einen äusseren Bezirk. Das ganze Gelände war umgeben von einem rechteckigen Wassergraben und einer Mauer.
«Burg Nijo, nehme ich an», sagte ich. «Richtig», bestätigte sie. «Hier, gegen Sonnenaufgang, sind mehrere Gebäude in einer gezackten Linie miteinander verbunden. In diesem hier» – sie zeigte auf eines der Häuser – «hält Haruto meine Schwester gefangen. Im Norden und Osten gibt es je einen Zugang zum Burgareal, aber diese könnt Ihr natürlich nicht benutzen, sie sind versperrt und gut bewacht. Ihr werdet Euch bei Nacht einen Weg über den Wassergraben und die Mauer suchen müssen.»
«Und dann? Wenn ich auf dem Gelände bin? Dutzende von Kriegern werden sich auf mich stürzen und mich überwältigen, falls mich nicht schon vorher der Pfeil eines Bogenschützen trifft. Ich mag Miyamoto Musashi heissen und den Ruf eines unbezwingbaren Schwertkämpfers geniessen, aber es macht auch für mich einen Unterschied, ob ich mich im Duell mit einem einzelnen Gegner messe oder gleich zwanzig Angreifer abzuwehren habe.»
«Ihr könnt es schaffen, denn Burg Nijo ist vom Shogun Tokugawa Ieyasu vor allem als Sinnbild seiner Herrschaft erbaut worden. Meistens weilt er in einer Residenz in Edo. Burg Nijo wird während elf von zwölf Monaten nur von Höflingen bewohnt und in dieser Zeit auch weniger streng bewacht. Die Gelegenheit ist günstig, denn vor zehn Tagen ist der Shogun nach einem kurzen Aufenthalt wieder nach Edo abgereist, wo er bestimmt den Rest des Jahres verbringen wird.»
«Nun ja – versuchen kann man es vielleicht, aber versprechen lässt sich nichts.» Diese zaghaft einlenkenden Worte signalisierten meine Bereitschaft, das Unternehmen zu wagen; Zurück gab es für mich nun keines mehr. Ich hätte mir in die Zunge beissen können, aber es war zu spät. Ich musste wohl oder übel den Helden in einer unmöglichen Mission spielen.
In Akemis Blick lag tief empfundene Dankbarkeit. «Ich wusste doch, dass ich mich auf den grössten Kämpfer Japans würde verlassen können; habt tausend Dank, grosser Musashi», sagte sie. «Und wann gedenkt Ihr zu reisen? Ich möchte nicht ungeduldig sein, aber je früher Kaori befreit wird, desto besser. Jeder Tag im Palast ist für sie ein neuer Tag in der Hölle.»
«Bereits morgen mache ich mich auf den Weg», sagte ich, denn ich wollte dieses unerwünschte Abenteuer so schnell als möglich hinter mich bringen.
«Euer Erbarmen gegenüber meiner Schwester ist gross, tapferer Musashi. Es soll Euer Schaden nicht sein, ich werde euch gut entlöhnen.» Ich machte eine abwehrende Gebärde. «Ich habe für einen Schwertkampf noch nie Geld genommen», sagte ich wahrheitsgemäss.
«Dann soll es auch so bleiben, ich will nichts tun, was Euer Ehrgefühl verletzt. Ich lasse Euch den Plan hier, damit Ihr Euch in der Burg Nijo zurechtfindet. Und eines noch: Betretet die Gebäudetrakte, die dem Shiro-Shoin, dem Aufenthalt meiner Schwester, vorgelagert sind, besonders vorsichtig. Der Weg führt über eine hölzerne Galerie, die so gebaut ist, dass sie in hohen Tönen knirrt, knarrt und quietscht, wenn man sich nicht sehr leise und geschickt auf den Brettern bewegt. Man nennt diesen Durchgang den Nachtigallenkorridor; er soll verhindern, dass sich Spione und Meuchler ungehört dem Shogun nähern können.»
Sie sprachs, verabschiedete sich mit einer vollendeten Verbeugung, lächelte anmutig, sodass ich einen Blick auf ihre schwarz gepinselten Zähne erhaschte, verliess die Werkstatt, setzte sich in die Sänfte und war mit ihrem kleinen Gefolge einen Augenblick später bereits wieder verschwunden, schnell und leise wie Schwalben am Himmel.
Mir kam es vor, als wäre sie nie dagewesen. Nur die halb leer getrunkene Teeschale zeugte von ihrem Besuch – und die Bambusröhre mit dem Plan, die bedrohlich auf dem Tisch lag.
Ich blickte zum Ständer mit dem Katana, das ich seinerzeit dem Samurai Kihei abgenommen hatte: Hätte ich doch nie, nie in meinem Leben dieses fatale Duell bestritten! Es hatte aus mir einen Nationalhelden gemacht, der ich nicht war und auch nicht sein wollte – jedenfalls nicht jetzt, wo man plötzlich von mir verlangte, mein Heldentum mit Taten zu belegen.
Neue Sandalen. Ein schalenförmiger, ausladender Strohhut. Ein Regenkragen aus Bast. Eine Umhängetasche, enthaltend ein langes Seil, zwei kürzere Stricke, ein kleines Messer, ein paar weitere Werkzeuge und etwas Geld. Mehr brauchte ich für meine Reise nach Kyoto nicht. Und natürlich Kiheis Schwert, das mir Mut machen und mich als Ronin ausweisen sollte. So ausgerüstet, zog ich am frühen Morgen des nächsten Tages los.
Ich hatte mich für luftige und schwarze Kleider entschieden; luftig, damit ich mich geschmeidig bewegen konnte, sei es beim Schleichen, sei es beim Kämpfen – wobei ich inständig hoffte, dass es zu keinem Kampf kommen möge –, und schwarz, damit ich bei Nacht mit den Schatten verschmolz und unsichtbar wurde wie die Spione und Meuchler aus der Gilde der Ninja.
Rüstig schritt ich aus, die Tasche an der Seite und das Schwert im Obi. Von Nordwesten wehte eine belebende Brise, die eine salzige Würze verströmte. Ich war seit Langem nicht mehr richtig aus meiner Werkstatt herausgekommen und hätte das Wandern an diesem Morgen in vollen Zügen genossen, wenn mich der Auftrag, in dem ich unterwegs war, nicht wie ein schwerer Sack bedrückt hätte. Aber was hätte ich anderes tun sollen? Man hielt mich für einen Helden, also musste ich zu handeln versuchen wie ein Held.
Durch luftige Kiefernwälder führte mein Weg, durch Dörfer und Weiler, über Wiesland und Auengebiete, vorbei an Shinto-Schreinen und Reisfeldern, auf denen Scharen von Bauern emsig arbeiteten. Wenn ich an ihnen vorbeikam, hoben sie die Köpfe und blickten mir neugierig nach. Sie fragten sich bestimmt, in wessen Auftrag dieser hünenhafte, schwarz gekleidete, zielstrebig ausschreitende Krieger unterwegs war und welche gefährlichen Abenteuer er wohl zu bestehen hatte.
Letztlich kümmerte sie dies aber bedeutend weniger als mich selbst. Bald schon neigten sie die Köpfe mit den breiten Strohhüten wieder über den Acker und fuhren gelassen fort, junge Reisstauden in die wässerigen Furchen zu pflanzen, eine um die andere, eine um die andere…
Und ich, ich war bereits verweht wie ein dürres Blatt im Wind. Ich eilte weiter, ostwärts in Richtung Kyoto, der Kaiserstadt, die mich erwartete wie ein Ungeheuer in einem Albtraum.
Zu Mittag kehrte ich in einer Garküche für fahrende Händler ein. Ich ass ein paar Onigiri, einen halben Rettich und etwas getrockneten Tintenfisch. Der Wirt sagte, es sei ihm eine grosse Ehre, den berühmten Schwertmeister unter seinem Dach zu wissen. Er wollte von mir kein Geld nehmen. Ich konnte es ihm nicht ausreden; zum Dank gestattete ich ihm aber, die Klinge meines Schwerts, das ich nur halb aus der Scheide gezogen hatte, zu bewundern und mit dem Daumen die Schärfe zu prüfen.
«Das Katana, mit dem der grosse Musashi sechzig Gegner bezwungen hat», murmelte er andächtig und konnte kaum aufhören, sich am Anblick des kunstvollen Schliffs und der edlen Politur zu weiden.
Am frühen Nachmittag zog ich weiter, und gegen Abend machte ich in einer schmucken, aber unbedeutenden Kleinstadt halt, um an einem Brunnen ein paar Schlucke Wasser zu trinken.
Da trat ein vielleicht fünfzigjähriger Mann auf mich zu. Er trug ein einfaches dunkelgraues Gewand, das dem eines Priesters ähnelte, hatte den Kopf kahl geschoren und blickte aus klugen, freundlichen Augen.
«Ein Riese auf Wanderschaft, zweckmässig gekleidet und mit einem kostbaren Schwert im Obi, das kann nur Miyamoto Musashi sein», lächelte er und verneigte sich. «Gestatten: Teemeister Ueda Soko.»
Ich verneigte mich ebenfalls. «Richtig geraten, Meister Soko. Es schmeichelt mir, von Euch erkannt zu werden, dem trefflichen Mann, der den ‹Teeweg der Samurai› erschaffen hat und dieses Ritual in Vollendung zu zelebrieren versteht. Euer Ruhm ist bis nach Miyamoto in meine bescheidene Hütte gedrungen.»
«Dann erweist mir die Freude und Ehre, für heute Nacht in meiner ebenfalls bescheidenen Behausung mein Gast zu sein, sofern Ihr nicht bereits andere Pläne habt», erwiderte der Meister. «Ich werde Euch nach den Regeln meiner Kunst einen Tee bereiten, und ein Platz zum Schlafen findet sich ebenfalls. Morgen könnt Ihr frisch und ausgeruht Eure Reise fortsetzen, welches Ziel sie auch immer haben mag.»
«Ich nehme Eure freundliche Einladung gerne an», sagte ich wahrheitsgemäss, denn mir wäre sonst nichts anderes übrig geblieben, als irgendwo bei einer heruntergekommenen Herberge am Wegrand anzuklopfen und mich unter allerlei reisendem Gesindel und zwielichtigem Volk zur Ruhe zu betten – und diese Aussicht bereitete mir wenig Behagen. Umso weniger, als ich eine schwierige Aufgabe vor mir hatte und auf ungestörten Schlaf Wert legte.
Ich folgte Meister Soko zu einem grossen Garten, der von einer Mauer umgeben war. Wir betraten die Anlage durch ein kunstvoll gefertigtes, orange, gelb und blau lackiertes Bambustor.
«Mein einfaches Zuhause», sagte er. «Den Garten habe ich selbst entworfen, Ihr werdet ihn bald genauer zu sehen bekommen. Vorläufig bitte ich Euch, auf dieser Bank Platz zu nehmen und zu warten, bis der Gong ertönt. Dann folgt Ihr dem schmalen Weg bis zum Teehaus, dort werde ich Euch empfangen.»
Der Teemeister verschwand. Ich setzte mich auf die von Büschen malerisch umgebene Steinbank, schaute im Abendlicht den Zierfischen im Tümpel zu und versuchte, mich innerlich von meinen Sorgen und meiner Angst zu befreien.
Ja, ich hatte Angst, sogar grosse Angst, denn ich war sicher, dass ich auf Burg Nijo meinen Tod finden würde, sollte ich wirklich so unbedacht sein, in die Festung des Shoguns einzudringen. Und doch musste ich es versuchen, denn ich hatte es versprochen. Man hatte mir die Rolle eines Schwertmeisters angedichtet, und auf das Wort eines Schwertmeisters sollte man sich allezeit verlassen können – und dies erst recht, wenn er der berühmteste seiner Zunft ist.
Wie aber verhält es sich, wenn man gar nicht ist, was man zu sein scheint? Auch dann gelten die ungeschriebenen Gesetze der Ehre, denn ein fremdes Gewand anzuziehen heisst, mit dem Fremden eins zu werden. Alles andere ist gegen die natürliche Ordnung.
Als ich so dasass und sann, ertönten auf einmal drei melodische, den ganzen Garten weich durchflutende Schläge eines Gongs. Ich erhob mich und betrat den schmalen Fussweg, der tiefer in den Garten hineinführte.
Der Pfad verlief in Windungen, sodass sich nach jeder Biegung ein neuer, das Auge beglückender Anblick bot. Bambus, Knöterich, Deutzien und Rhododendren bildeten den Unterwuchs der Bepflanzung; dazwischen ragten einzeln oder in harmonischen Gruppen Kiefern, Zedern und Ahorne in allen Grössen und Formen auf sowie Koniferen, denen man einen dekorativen Schirmschnitt verpasst hatte. Hin und wieder erhob ein bemooster und farnbewachsener Steinbrocken sein altes Haupt.
Immer schmaler wurde der Pfad, immer dichter und dunkler die Vegetation. Am Wegrand bemerkte ich einen kleinen Haufen mit zusammengekehrten Blättern, Blüten und sonstigen Pflanzenteilen.
Lass fallen, was dich bedrückt, wirf es auf einen Haufen, lass es liegen und mache deinen Geist frei, raunte mir dieses vom Teemeister mit eigenwilligem Kunstsinn arrangierte Wegzeichen zu.
Nach einer letzten Biegung des Pfads öffnete sich plötzlich eine kleine Lichtung, auf deren sauber geschnittenen Rasenfläche das Teehaus stand, eine äusserst einfache und zugleich geschmackvolle Hütte von klarer Form und einladender Ausstrahlung, beschattet von einer alten Kiefer und umgeben von üppigem Farn.
Der Teemeister stand beim Eingang. Mit einer ruhigen, anmutigen Gebärde deutete er auf die niedrige Luke, durch die ich in das Haus gelangen sollte. Der Durchschlupf war so knapp bemessen, dass ich ihn nur auf den Knien passieren konnte; das entsprach ganz Absicht des Erbauers, denn wer ein Teehaus betritt, soll es in Demut tun.
Der Meister folgte mir ins Innere, das mit Strohmatten ausgelegt und bis auf ein Rollbild und ein Blumengesteck völlig schmucklos war. Er kniete sich konzentriert vor die Feuerstelle mit den glühenden Kohlen und den rundherum drapierten Utensilien, bestehend aus Teedose, Wassergefäss, Spülwassergefäss, Kanne, Trinkschale, Bambuslöffel und Teebesen. Ich liess mich ihm gegenüber auf der Matte nieder.
Nun begann Meister Soko in einer feierlichen Abfolge von Verrichtungen und Bewegungen mit der Zeremonie. Er präsentierte, spülte, reinigte, löffelte, schöpfte, goss und rührte, alles aus einem tief verinnerlichten Guss heraus und mit harmonischen Bewegungen, die mein Gemüt beruhigten und mein Inneres mit einer wohltuenden Leere ausfüllten. Ich fühlte mich wie auf einem Boot, das in einem lauen Wind sanft auf schaukelnden Wellen trieb.
Schliesslich war der Tee fertig. In einer schlicht gestalteten Schale koreanischer Machart bot mir der Meister das kräftig hellgrüne, leicht breiige und aufgeschäumte Getränk dar. Es schmeckte köstlich – nach Nichts, nach Leere, nach Zen, nach vollkommener Seligkeit.
Von tiefer Ruhe durchdrungen war ich auch noch, als mir der Meister später mein Nachtlager in seinem Wohnhaus zuwies. Dieser zweite Bau befand sich im Herzen des Gartens, umgeben von Rhododendren, Bambusstauden und drei schlanken Ahornbäumen.
Zum Schein der Gartenlaternen, der sanft flackernd durch die papierbespannte Fensterfront drang, legte ich mich auf die Matte, schloss die Augen und versank in einen tiefen Schlaf, fernab von allen Zweifeln und Ängsten.
Von Weitem schon vernahm ich die Hilfeschreie. Als ich das Wäldchen hinter mir gelassen hatte, das linksseitig die Strasse säumte und mir die Sicht versperrte, sah ich, dass vor einem einsamen kleinen Haus eine junge Frau von zwei Kerlen arg bedrängt wurde.
Die Männer sahen aus wie Streuner und Halunken. Der eine hielt sein Opfer von hinten gepackt und drückte ihm die Arme an den Leib, während der andere versuchte, der wild Zappelnden und Schreienden den Kimono vom Leib zu reissen.
Ich hatte beim Teemeister herrlich geschlafen und fühlte mich nach wie vor frisch, obwohl ich bereits wieder eine grosse Strecke zurückgelegt hatte. Im Laufschritt näherte ich mich der wüsten Szene. Als mich die Bösewichte erblickten, liessen sie von der Frau ab und suchten hastig das Weite. Ich trat an die Frau heran und fragte, ob sie verletzt sei.
«Nein, Herr, mit mir ist soweit alles in Ordnung», sagte sie und verneigte sich. «Amaya ist mein Name. Ich danke Euch von Herzen, dass Ihr die beiden Männer vertrieben und die Ehre einer armen, alleinstehenden Frau gerettet habt. Euch muss die Göttin Amaterasu persönlich geschickt haben.»
«Du hast nichts zu danken. Ich musste ja nicht einmal kämpfen; mein Verdienst besteht einzig darin, gross und bewaffnet zu sein. Das genügt meistens, um solche Gesellen in die Flucht zu schlagen.»
Ich sah mich um. Das kleine Haus wirkte bescheiden, schon fast ärmlich, aber sauber und freundlich. Es war zu weit weg vom letzten Dorf, um noch dazuzugehören, und lag vermutlich ebenso weit entfernt vom nächsten Ort.
Einsam stand es in einer ebenen Landschaft, die nur aus Reisfeldern, Hecken und kleinen Wäldchen bestand. Im gepflegten Garten wuchs Gemüse, und auf einem Stück Rasen lagen Dutzende von frisch geleimten Regenschirmen aus Bambus und Ölpapier zum Trocknen im frühen Abendwind.
«Ich sehe, du bist Schirmmacherin», sagte ich lächelnd. «Wohnt hier denn sonst niemand?» «Nein, Herr; seit mein Vater vor zwei Jahren gestorben ist, lebe ich hier allein und führe, so gut ich kann, seine Werkstatt weiter. Weil sich das Haus zwischen zwei Dörfern befindet und ich Kundschaft aus beiden Orten habe, kommt gerade so viel zusammen, dass es zum Leben knapp reicht.»
«Hast du denn keine Angst so ganz allein?» «Nein, Herr, denn die Leute hier sind ein freundlicher Schlag, es käme keinem der Bauern in den Sinn, mir ein Leid anzutun. Die beiden Männer vorhin habe ich noch nie gesehen; vermutlich sind es im Land umherziehende Räuber, die am Wegrand auf Beute lauern, um sie dann in der nächstbesten Spelunke zu verprassen. Hoffentlich kommen sie diese Nacht nicht wieder, ich habe keinen Hund, der mich beschützen könnte.»
«Ich kann dich beschützen, für diese Nacht wenigstens», sagte ich. «Vermutlich sind deine Peiniger bereits über alle Berge, aber man kann nie wissen. Ich bin auf der Durchreise und müsste mich demnächst so oder so nach einer Herberge umsehen. Du kannst mir in deiner Werkstatt einen Platz zum Schlafen zuweisen, ich werde dafür auch anständig zahlen.»
«In meiner Werkstatt könnt Ihr schlafen, aber das mit dem Zahlen lasst bleiben, Herr. Doch zuerst bitte ich Euch an meinen Tisch, damit ich euch mit Tee und einem Nachtmahl bewirten kann.»
So kam es, dass ich mich am Brunnen frisch machte, die Sandalen abstreifte, das Katana höflich im Vorraum des kleinen Hauses niederlegte und die Wohnung der Schirmmacherin betrat. An einem kleinen, einfach gezimmerten Tisch nahm ich Platz.
Anstelle des üblichen Rollbildes befand sich in der Wandnische ein hölzernes Kreuz, an dem die Figur einen leidenden Mannes mit einer Dornenkrone hing. Ich kannte diese Darstellung: Es war der Gott jener fremden Priester, die in unserem Reich während Jahrzehnten die Religion des Kirisuto verkündet hatten, vom Shogun unlängst aber des Landes verwiesen worden waren, weil ihr Einfluss seinen Herrschaftsplänen im Weg stand.
«Ich sehe, du bist eine Anhängerin von Kirisuto», sagte ich zu meiner Gastgeberin, als sie mir eine Kanne Tee und einen einfachen, aber kräftigen Imbiss aufstellte. «Ja, Herr, mein Vater war es bereits, mein Grossvater auch», antwortete sie.
«Davon musst du mir erzählen, ich weiss kaum etwas über diese Religion. Komm, setz dich hin und trink mit mir eine Schale Tee.» «Wenn Ihr es wünscht, Herr.» Sie kniete mir gegenüber am Tisch nieder. Ihre Gesellschaft war mir willkommen; sie hatte eine ungekünstelte Art und ein angenehmes Äusseres, zudem verströmte sie eine heitere Zuversicht, wie ich sie sonst nur von alten buddhistischen Priestern kannte.
«Und nun erzähl mir von Kirisuto. Wie ist das mit diesen Feiern, bei denen ihr euren Gott verspeist?», fragte ich, nachdem ich die Teeschale ausgetrunken und zurück auf den Tisch gestellt hatte.
Sie lachte, schlug sich aber sofort höflich die Hand vor den Mund. «Verzeiht, Herr, wenn ich lache, aber es handelt sich hier um einen erheiternden Fehlschluss. Wir essen unseren Gott nicht, wir essen nur das heilige Brot, das ein Sinnbild seines Leibes ist – und der Leib wiederum verkörpert die weltweite Gemeinde seiner Anhängerschaft.»
«So ist das also. Aber sage mir: Wer ist dein Gott Kirisuto, und warum hängt er am Kreuz?» Sie sammelte kurz ihre Gedanken und erklärte dann: «Er ist Gott, aber er ist auch Mensch und kam auf die Erde, um das richtige Leben zu predigen, den Mächtigen den Spiegel vorzuhalten und die Welt vom Bösen zu erlösen, indem er sich von seinen Feinden ohne Gegenwehr ans Kreuz schlagen liess.»
«Das verstehe ich nicht. Das Böse ist noch immer in der Welt, und keiner kann es besiegen, indem er sich als Opfer darbietet und willig umbringen lässt.» Akemi lächelte. «Das ist tatsächlich schwer zu verstehen. Kirisuto handelte so, weil er die Welt liebt, alle Geschöpfe, alle Menschen und sogar seine Feinde. Dasselbe verlangt er von seinen Anhängern – eine grenzenlose Liebe, die auch den Feind einschliesst.»
«Wer kann das ernstlich von einem Menschen verlangen? Aber immerhin hat er es selber vorgelebt, dein Kirisuto. Er ist ein Gott des Mitleids, weil er die Welt liebt. Buddha, zu dessen Anhängern ich gehöre, ist auch mitleidig, aber nicht, weil er die Welt liebt, sondern, weil er sie als Ursache allen Leids betrachtet. Wie kann es sein, dass zwei erleuchtete Menschheitslehrer so unterschiedliche Ansichten über die Welt haben?»
Amaya kehrte den Blick versonnen nach innen. «Ich weiss es nicht, ich bin nur eine einfache Schirmmacherin. Vielleicht ist alles eine Frage der Betrachtung. Ein Regenschirm ist zusammengeklappt ein kräftiger Stock, aufgespannt ein luftiger Pilz, und doch ist es immer ein Schirm. So verhält es sich wohl auch mit der Wahrheit: Sie hat viele Gesichter und ist doch immer die Wahrheit.»
So sprachen wir noch eine Weile weiter. Dabei wurde es Nacht, und ich bezog in Amayas Werkstatt mein Nachlager. Bevor wir uns gute Nacht wünschten, sagte sie noch: «Verzeiht, Herr, wenn ich dies auch noch sage, doch es richtet sich direkt an Euch, denn Ihr seid ein Mann des Schwerts. Kirisuto sagt: ‹Wer zum Schwert greift, wird durch das Schwert umkommen.›»
Darüber dachte ich lange nach, bevor mich die Müdigkeit in einen leichten Schlaf trug, aus dem ich immer wieder hochschreckte, weil ich glaubte, Einbrecher um das Haus schleichen zu hören. Aber es waren immer nur Geräusche des Windes. Die beiden Bösewichte, die meine Gastgeberin bedrängt hatten, blieben verschwunden.
Häuser, Häuser, Häuser. Grosse und kleine, prächtige und bescheidene, mit luftigen Veranden und sauber gekehrten Vorplätzen, papierbespannten Fensteröffnungen und weit ausladenden Dächern, eine unübersehbare Flut von ineinandergeschobenen, verschränkten, in ihrem Auf und Ab erstarrten Wogen aus Holz, Schilf und Stroh. Breite Strassen, enge Gassen, weite Plätze, Tempelanlagen mit Gärten, manche von ihnen grün und lieblich, andere karg und streng, bestehend aus einer Fläche Sand, in den man mit einem Rechen schnurgerade Furchen gezogen hatte, und einigen mit Bedacht hineingepflanzten Steinbrocken.
Handwerkstuben, Papierschöpfereien, Schnitz-, Schmiede- und Schreibwerkstätten, Shochu-Brennereien, Algenröstereien, Sojabrauereien, einfache Gaststuben, vornehme Teehäuser und zwielichtige Schenken, Strassenverkäufer, Arbeiter, Beamte und Gelehrte, Frauen und Kinder, Karren mit Früchten, Stoffballen, Reis, Holz und vielem mehr.
Und diese Stimmen, dieses Plappern, Rufen und Schreien, dieses betriebsame Summen, Rädern, Hämmern und Klopfen, ohne Unterlass die Ohren bedrängend: So empfing mich Kyoto, die altehrwürdige Kaiserstadt, als ich sie am Nachmittag des nächsten Tages erreichte.
Ich war zum ersten Mal hier, und was ich vorfand, war eine riesige Stadt aus Holz, Bambus, Stroh und Papier, möglichst leicht gebaut, damit sich ein Strassenzug nach einer allfälligen Feuersbrunst rasch wieder aufbauen liess.
Die Burg Nijo hatte ich schnell gefunden. Alle Strassen schienen dort, am Brennpunkt der Macht, zusammenzukommen. Die Anlage war gewaltig und von einem Wassergraben sowie einer hohen Mauer umgeben, die von den mächtigen Giebeln der Paläste im Innern überragt wurde wie von den Schwingen ungeheuerlicher Urvögel.
Viel konnte ich nicht sehen, aber was ich sah, war nicht das Werk eines feinsinnigen Herrschers, sondern eines Machtmenschen, wuchtig, bedrohlich und hochfahrend.
Als genau das war die Burg vor wenigen Jahren denn auch erbaut worden: als Symbol der Macht, die der Kriegsherr Tokugawa Ieyasu dem Kaiser in langen Kriegen entrissen hatte. Nun herrschte der Kriegsherr als siegreicher Shogun über das Reich der aufgehenden Sonne, als wäre er der rechtmässige Tenno.
Dieser aber sass seither als Puppenkaiser in seinem angestammten Sitz in Kyoto und musste mit ansehen, wie der neue Regent vor seiner Nase die Burg Nijo errichten liess zum Zeichen seiner Macht. Der siegreiche Shogun machte zwar die kleine und weit entfernte Hafenstadt Edo zu seinem Herrschaftszentrum, liess es sich aber nicht nehmen, hin und wieder für ein paar Wochen auf Burg Nijo in Kyoto zu residieren, um den entmachteten Kaiser in seinen Schranken zu halten.
Auf dem weiten Platz vor dem Burgareal herrschte auffallend wenig Betrieb, deshalb glaubte ich davon ausgehen zu können, dass sich der Shogun nicht in der Stadt aufhielt. Die entsprechende Frage an einen vorbeikommenden Glückspieler – ich erkannte sein Gewerbe an den Tätowierungen – bestätigte mein Gefühl: Der Shogun befand sich seit einigen Tagen wieder in Edo, die Burg Nijo war bis auf ein Dutzend Höflinge und deren Dienerschaft sowie einen kleinen, aber gut gedrillten Wachtrupp leer.
Meine Aufraggeberin Akemi hatte also recht gehabt: Der Zeitpunkt war günstig, um zu versuchen, in die Festung einzudringen und die arme Kaori aus den Klauen des Wüstlings Haruto zu befreien.
Zuerst aber musste ich die Nacht abwarten. Zu diesem Zweck zog ich mich in den öffentlichen Garten einer nahen Tempelanlage zurück, wo ich, das Schwert in den Falten meines Bekleidung verbergend, unauffällig wie ein einsamer Pilger lustwandelte und sann.
Es wurde dunkel und still. Die Leute hatten sich in ihre Häuser zurückgezogen. Nun verliess ich den Tempelgarten und pirschte mich langsam und unauffällig an den breiten Wassergraben heran, der die Burgmauer umgab.
Ob ich Angst hatte? Zu diesem Zeitpunkt kaum mehr. Jetzt galt es, die schwierige Aufgabe anzupacken, zu der ich mich verpflichtet hatte. Wollte ich Kaori befreien, musste ich frei sein von Angst. Natürlich kann man die Angst nicht einfach so vertreiben. Die Aussicht jedoch, nicht mehr sinnen und bangen zu müssen, sondern endlich handeln zu können, hatte mich im Tempelgarten in einen Zustand zuversichtlicher Tatkraft versetzt.
Langsam schlich ich um den Wassergraben herum und suchte nach einer Möglichkeit, ihn zu überwinden. Zwar gab es zwei Brücken, die je zu einem Zugang in der Mauer führten, eine an der Nord- und eine an der Ostseite. Die Brückenwachen waren jetzt, in der Nacht, abgezogen, doch die schweren Tore selbstverständlich verriegelt und vermutlich von innen her bewacht.
Was tun? Auf einmal entdeckte ich, gut verborgen im Uferschilf, ein kleines Boot. Wer mochte es hier versteckt haben? Und warum hatten es die Wächter des Shoguns nicht entdeckt? Ein Boot hatte hier, am Wassergraben von Burg Nijo, bestimmt nichts zu suchen, so viel stand fest.
Ich überlegte jedoch nicht lange, band den Kahn los, ergriff das einzige Ruder und paddelte geräuschlos zur Burgmauer. Die Nacht war für mein Unterfangen gut geeignet, vom Halbmond etwas erhellt, aber nicht zu sehr, sodass ich in meiner schwarzen Montur mit der dunklen Umgebung verschmolz.
Als ich bei der Mauer angelangt war, schnitzte ich das massive Holzruder zu einem Knüppel zurecht, denn ein solcher würde mir bei einem allfälligen Kampf mehr nützen als mein zerbrochenes Katana. Überhaupt setzte ich bei dieser Unternehmung nicht auf die Fechtkunst, von der ich kaum eine Ahnung hatte, sondern auf meine Körpergrösse und überragende Kraft.
Ich steckte den Knüppel in den Obi, nahm mein Seil aus der Tasche und warf es nach einem kräftigen Ast, den eine Kiefer im Burggarten über die Mauer hinausragen liess. Nach vielleicht zehn, zwölf Versuchen gelang es mir, das Seil zu befestigen und an der aus wuchtigen Steinklötzen gefügten Mauer hochzuklettern.
Auf der Mauerkrone, die breit war wie eine Strasse, duckte ich mich katzengleich und spähte in den Schlosspark. Direkt unter mir schlummerte friedlich ein Kirschgarten, rechts befand sich der Palastkomplex, geradeaus lag die Villa Honmaru im Herzen des Areals, und links breiteten sich weitere Gärten aus.
Weit und breit regte sich nichts, also seilte ich mich ab, äusserst langsam, denn als Bub hatte ich beim Versteckspiel gelernt, dass schnelle Bewegungen im Dunkeln eher wahrgenommen werden als langsame.
Hinter dem Stamm eines Kirschbaums glitt ich lautlos zu Boden. Nach einer kurzen Verschnaufpause arbeitete ich mich zu den Palästen vor, die Deckung ausnutzend, die mir die Bäume und Sträucher reichlich boten.
Meine Anspannung stieg, denn je näher ich den Gebäuden kam, desto mehr schien es mir wahrscheinlich, dass irgendwo im Versteckten Wächter auf Eindringlinge lauerten – aber nach wie vor blieb alles still.
Breit und mächtig erhoben sich die verwinkelt miteinander verbundenen Gebäude der Residenz. Hinter den papierbespannten Fensterfronten des Erdgeschosses glomm schwach und ruhig das Licht von Laternen, deren Umrisse sich verschwommen abzeichneten. Hier verlief gemäss Akemis Planskizze, die ich im Kopf hatte, der Korridor der Nachtigallen. Diese knarrenden und quietschenden Bretter musste ich passieren, wollte ich in das Gemach gelangen, das Kaoris goldener und zugleich schrecklicher Käfig war.
Aufs Geratewohl probierte ich eine der Türen aus, die in den Korridor führten. Zu meiner Verwunderung war sie nicht verriegelt. Leise, leise und langsam, langsam öffnete ich sie einen Spaltbreit, in der Hand meinen Knüppel, bereit, blitzschnell zuzuschlagen, sobald sich ein Diener oder ein Wächter zeigen würde, und spähte vorsichtig in den Korridor, der sich zur Rechten und Linken ins Unendliche auszubreiten schien.
Nichts und niemand. Der Flur, der allein schon die Ausmasse einer Halle hatte, war vollkommen leer. Die Wächter schliefen bestimmt in verborgenen Kammern und würden sofort erwachen, wenn der Korridor zu Quietschen begänne.
Aber ich musste es versuchen. Am Nachtigallenkorridor führte nun einmal kein Weg vorbei. Es war nicht einfach, mich zu orientieren, denn die wenigen Laternen, die in weiten Abständen seitlich an den Balken befestigt waren, warfen in die dunkle Galerie nur einen diffusen Schimmer.
Vorsichtig setzte ich den rechten Fuss auf die Türschwelle und zog den linken nach. Die Bretter blieben still. Mit höchster Konzentration zog ich die Tür hinter mir zu.
Nun befand ich mich im Palast des Shoguns, des mächtigsten Mannes im Reich. Ich hatte mich wie ein Dieb und Meuchelmörder bei Nacht eingeschlichen. Fände man mich, würde man mich ohne nachzufragen einen Kopf kürzer machen. Ich atmete tief durch, um meinen Herzschlag zu beruhigen. Dann wagte ich mich auf das Parkett.
Die Bretter knarrten beim ersten Schritt nur ganz leise. Das würde bestimmt niemand hören. Ich setzte zum zweiten Schritt an, verlagerte mein Gewicht langsam und fliessend, wartete angespannt auf das verräterische Zwitschern der Bretter – doch die Nachtigall schlief noch immer. Der dritte Schritt. Knirr – laut und deutlich! Ich erschrak, blickte nervös um mich. Nichts. Glück gehabt.
Jetzt aber weiter, der nächste Schritt. Dieser ging mehr oder weniger geräuschlos vonstatten, die nächsten vier oder fünf ebenfalls.
Dann wieder ein scheusslich lautes Quietschen wie von einer ungeölten Türangel. Ich hielt inne, hörte mein Herz klopfen, unterdrückte den schweren Atem und bohrte die Augen ins Dunkel des Korridors.
Da! Das kurze Aufzucken eines Lichts, die vagen Umrisse einer menschlichen Gestalt, die für die Dauer eines Lidschlags sichtbar wurde, um sogleich wieder mit den Schatten zu verschmelzen…
Ich fasste den Knüppel fester, spannte die Muskeln. Aber da war weit und breit niemand, kein Diener, kein Wächter, kein Samurai… Ich musste weiter, eine unkontrollierbare Erregung trieb mich vorwärts, während mir gleichzeitig der kalte Schweiss der Angst auf der Stirn stand.
Quiep. Wieder hatte die Nachtigall laut gezwitschert. Und wieder: Quiep, quirr. Die nächsten Schritte gelangen besser; ich kam ungefähr dreissig Shaku weiter, ohne dass ein nennenswertes Geräusch ertönt wäre.
Doch plötzlich stockte mein Schritt mitten in der Bewegung – war da nicht abermals der Umriss eines Menschen im stumpfen Schimmer einer Laterne zu erkennen?
Still stand die Gestalt da und beobachtete mich… Als ich meine Position leicht veränderte, war sie innert eines Lidschlags wie vom Erdboden verschluckt. Ich wartete. Die Gestalt blieb verschwunden. Eine Einbildung meiner überreizten Sinne? Vermutlich.
Ich schlich weiter, langsam und tastend wie ein Akrobat auf dem Seil. Dabei gelang es mir wenigstens über kleinere Strecken, die Nachtigall auszutricksen. Dass sie hin und wieder lauter oder auch leiser aufzwitscherte, liess sich jedoch nicht vermeiden. Die Zimmerleute hatten mit viel Geschick dafür gesorgt, dass die Bretter ein singendes Zirpen von sich gaben, sobald sie sich an den Holzzapfen unter dem Boden rieben.
Und jetzt… Wieder eine schemenhafte Gestalt? Oder ein Trugbild aus Kerzenlicht und Schatten? Nein – keine Einbildung. Eine blitzartige Bewegung, ein kurzes Zwitschern der Bretter, dort hinten, an der linken Wand des Korridors!
Stille. Niemand. Niemand? Es blieb mir nichts anderes übrig, als weiterzuschleichen, Schritt für Schritt, Brett für Brett, hin und wieder an einer der Laternen vorbei, die wie kleine Nachtgeister an den Balken hingen und einen kränklichen Schimmer verströmten.
Ein Wächter, da! Vielleicht zehn Shaku vor mir, lautlos aus dem Boden geschossen. Stand reglos im Schatten, schwarz gekleidet wie ich und gleich bewaffnet mit einem Katana und einem Bokuto, vermutlich ein Ninja, starrte mich an, ging über in Schatten, flackerte wieder kurz daraus hervor, tauchte erneut ein in die Tinte der Nacht, ohne sich zu bewegen…
Nichts wie drauf! Er oder ich! Ich ging mit einem gewaltigen Sprung auf ihn los, sah ihn mit derselben Bewegung ebenfalls springen, hob das Bokuto, er tat es mir gleich, und ohne eine Sekunde zu zögern, liess ich den schweren Knüppel auf meinen Widersacher niedersausen, mit aller Kraft, die ich aufbieten konnte, und das war nicht gerade wenig.
Ein Schlag, noch einen und noch einen… Es krachte, splitterte, etwas fiel polternd und donnernd in sich zusammen und zu Boden… Ein zerbrochener Holzrahmen und tausend im trüben Schimmer glänzende Scherben… Die Trümmer eines massiv gebauten Spiegels, der an einem Gestell im Korridor aufgestellt worden war.
Ich hatte mich selber im Spiegel erblickt, mich für meinen Feind gehalten und dabei das Glas zerschlagen. Unter den Trümmern hervor vernahm ich ein schwaches Stöhnen.
Ich rannte zur nächsten Laterne, nahm sie von der Wand, kehrte zum Schadensplatz zurück, hielt das Licht gegen den Boden und sah, dass unter einem schweren Rahmenstück ein Mann eingeklemmt war. Er versuchte, sich zu befreien, stützte sich mit letzter Energie an den Ellenbogen auf, erschlaffte dann aber und sank kraftlos wieder in sich zusammen.
Ich stemmte den Rahmen, der seinen Brustkorb zu Boden drückte, mit meinem Bokuto weg. Darunter kam ein Kämpfer in der Tracht eines Samurai zum Vorschein; das kurze Schwert trug er im Obi, das blanke Katana lag neben ihm am Boden.
Es war offenkundig, dass er schwer verletzt war und sich aus eigener Kraft nicht erheben konnte. Er hatte mir hinter dem Spiegel, der mich durch den Anblick meines gespenstischen Ebenbilds hätte lähmen sollen, aufgelauert, um mich anzufallen und zu töten. Nun stand er als Unterlegener kurz vor seiner eigenen Exekution.
In Erwartung des tödlichen Streichs, der mir als Sieger zustand, blickte er mich schwer atmend, aber stumm und ausdruckslos an. Was mag wohl in einem Menschen vorgehen, der glaubt, dass sein Kopf im nächsten Augenblick von einem Riesen zerschmettert werden soll?
Zeige Mitleid, sagte die Stimme Buddhas in mir. Liebe deinen Feind, flüsterte mir Kirisuto zu. Ich war Schönschreiber und Kunstschmied, kein Krieger. Das Töten eines Besiegten war meine Sache nicht. Ich liess meinen Ruderknüppel, den ich zu einem gewaltigen Streich erhoben hatte, sinken.
In diesem Augenblick hörte ich hinter mir das Quietschen der Bretter. Blitzschnell wandte ich mich um und sah eine dunkle Gestalt in Wams und Hakama flink davonhuschen. Obwohl sie Männerkleidung trug, wirkte sie eher wie eine Frau.
Die Gestalt öffnete eine Tür und floh ins Freie. Ich setzte ihr nach. Ich wollte sie fesseln und knebeln, um zu verhindern, dass sie mich an die Palastwache verriet.
Wo war sie? Dort, zwischen zwei Kiefern! Lautlos verschwand sie im Dunkel des Unterwuchses. In riesigen Sprüngen folgte ich ihr, trieb sie in einer wilden Hetze kreuz und quer durch den grossen Garten, bis sie schliesslich in kopfloser Panik über eine Holzbrücke auf die kleine Insel stürmte, die sich mitten im Zierteich befand. Hier hatte die Flucht ein Ende; die Gestalt sass fest.
Ich holte sie ein, packte sie, riss ihr die dunkle Haube vom Kopf, die nur die Augen frei liess, und löste vor Überraschung meinen Griff: Vor mir stand, wie ich im Schein einer steinernen Gartenlaterne sehen konnte, die junge Frau, die mich beauftragt hatte, ihre Schwester aus dem Fängen des bösen Haruto zu befreien.
Warum rannte sie vor mir davon? Hatte sie geholfen, mir die Falle im Nachtigallenkorridor zu stellen? «Akemi!» Das war alles, was ich im ersten Moment hervorbrachte.
Akemi blickte mich trotzig an. «Zieht Euer Schwert und schlagt zu, Musashi», sagte sie. «Ich fürchte den Tod nicht. Ihr habt doppelt, Ihr habt dreifach gesiegt, nun nehmt Euch Euren Preis.»
«Warum sollte ich?», fragte ich verständnislos. Sie antwortete: «Ihr habt vorhin Kojiro, einen jungen und talentierten Schwertmeister, bezwungen und getötet. Ich bin an seiner Niederlage mitschuldig und gehöre somit getötet wie er.»
«Was redet Ihr da, Akemi? Kojiro oder wer auch immer hinter dem Spiegel lauerte, ist zwar schwer verwundet, aber nicht tot. Falls sich demnächst jemand um ihn kümmert, wird er sich mit grösster Wahrscheinlichkeit innert eines Mondlaufs erholen. Ich sah keinen Grund, ihn zu töten, genauso wenig, wie es einen Grund gibt, Euch zu töten. Im Gegenteil: Ich bin es, der vor Euch schlecht dasteht. Ihr habt mich beauftragt, Eure Schwester zu befreien, diese Aufgabe werde ich nun wohl nicht mehr lösen können.»
Sie aber beharrte: «Ich bin in Euren Händen. Hört, was ich zu sagen habe, und dann entscheidet, ob ich nicht vielleicht doch den Tod verdient habe.» Und sie begann zu erzählen.
Ich erfuhr, dass sie damals, vor vierzehn Jahren, das kleine Mädchen im gelben Kimono gewesen war, das zugesehen hatte, wie ich den Samurai Kihei auf dem Dorfplatz von Miyamoto erschlagen hatte. Das Mädchen war Kiheis Tochter; ein brennender Durst nach Vergeltung ergriff von ihrer Kinderseele Besitz. Als sie in Begleitung der beiden Knechte das Dorf verliess, gab sie sich selber das Versprechen, am Bezwinger ihres Vaters Rache zu üben, wann und wo immer dies auch sein möge.
Die Zeit heilt alle Wunden, sagt man – doch in ihrem Fall war es anders. Sie konnte den Verlust ihres Vaters umso weniger verwinden, als sie die Mutter bereits kurz nach der Geburt verloren hatte und nun also Vollwaise war. Sie und ihr vier Jahre älterer Bruder wurden von einem Onkel aufgenommen, der eine einflussreiche Persönlichkeit im Gefolge des Shoguns war.
Akemi erlernte alle Künste, die eine Dame bei Hof beherrschen muss, verlor dabei aber nie ihr grosses Ziel aus den Augen, nämlich mich, den angeblich unbesiegbaren Schwertmeister Musashi, für den Tod ihres Vaters bluten zu lassen.
Sie wartete, bis ihr Bruder Kojiro zum Samurai ausgebildet war und die Schwertkunst beherrschte, dann schmiedete sie einen Plan. Sie erfand ihre Schwester Kaori und den fiesen Höfling Haruto, dazu die Geschichte, dass Erstere von Letzterem als Lustsklavin missbraucht und gefangen gehalten werde.
Sie überredete mich, den grossen Kämpfer, das Unmögliche zu wagen und ihre Schwester zu befreien. Als Ort des Geschehens wählte sie die Burg Nijo, damit ich durch die Tücken des Nachtigallenkorridors abgelenkt und ihrem Bruder ein möglichst leicht zu überrumpelnder Gegner sein würde.
Die beiden wollten kein Wagnis eingehen, denn immerhin galt ich als kaum bezwingbar. Natürlich war die Palastwache im Bild; sie hatte Anweisung, sich in dieser Nacht zurückzuhalten und Kojiro alleine walten zu lassen, denn der ehrgeizige junge Kämpfer begehrte den Sieg für sich allein.
Um mich zusätzlich aus dem inneren Gleichgewicht zu bringen, stellte man auch einen grossen Spiegel auf, der mir im Dämmerlicht einen Phantomgegner vorgaukeln sollte. Der hinter diesem Hindernis lauernde Kojiro allerdings hatte weder mit meiner aussergewöhnlichen Leibeskraft gerechnet noch damit, dass ich mit einem schweren Knüppel dreinschlagen und den massiven Spiegel zertrümmern würde. So wurde die Falle für den, der sie mir gestellt hatte, selber zur Falle.
«Nun wisst Ihr alles, Meister Musashi – tötet mich, denn mein Bruder und ich, wir haben unehrenhaft gehandelt», schloss Akemi ihr Geständnis.
«Das liegt mir ferne», antwortete ich. «Buddhas Mitleid und Kirisutos Liebe stehen einem Mann des Pinsels besser an als der kurze Triumph des Tötens. Zieht in Frieden, Ihr und Euer Bruder. Und haltet mich nicht für den, den Ihr bisher in mir gesehen habt. Die Welt besteht aus lauter trügerischen Erscheinungen; beständig ist nur der ewige Fluss.»
Ich zog Kiheis Katana aus dem Obi, und während Akemi zusammenzuckte, da sie glaubte, ich würde ihr nun doch noch den Kopf abhacken, warf ich die zerbrochene Klinge in den Teich. Es war der Abschied von meinem alten Ich.
Nachdem mir Akemi das Tor zur östlichen Palastbrücke geöffnet hatte, verliess ich die Burg Nijo im Eilschritt, ohne mich ein einziges Mal umzuwenden. Ich gönnte mir erst ein paar Stunden Nachtruhe unter freiem Himmel, als ich die Kaiserstadt hinter mir gelassen hatte. Seither war ich nie mehr in Kyoto, und auch von Akemi und ihrem Bruder habe ich nie mehr etwas gehört.
Ich kehrte zurück nach Miyamoto und pflegte fortan nur noch die Kunst der Kalligrafie und Tuschmalerei. Die Herstellung von Stichblättern gab ich auf, denn mit der Schwertkunst wollte ich nichts mehr zu tun haben. Ich hatte mein Katana vor den Augen Akemis versenkt, ich brauchte es nicht mehr.
Nur mein Bokuto bewahrte ich an einem Ehrenplatz in meinem Wohnraum auf; es sollte mich immer daran erinnern, dass ich im Nachtigallenkorridor nicht Kojiro, sondern mich selber überwunden hatte, indem ich mein Spiegelbild zertrümmerte.
Was von mir übrig blieb? Ein Mensch, der nicht mehr unter dem Zwang lebte, ein Held sein zu müssen. Ich folgte dem Weg Buddhas, wog mein Reden stets sorgfältig ab und liess mich in meinem Tun nicht ablenken.
Ich versuchte, wie ein Fels zu werden, ein Fels des Mitleids und des Gleichmuts. Bei meinen spirituellen Bemühungen dachte ich zuweilen auch an Kirisuto, den Gott der unendlichen Liebe, und erkannte in ihm eine andere Inkarnation Buddhas.
Die Wahrheit ist unendlich, und das Unendliche ist das Nichts. Mit dem Verstand lässt es sich nicht fassen, nur mit dem Gefühl. Deshalb sprechen meine Werke auch nicht den Kopf an, sondern das Auge und die Seele. Die Pinselstriche sind sparsam im Ausdruck und beschränken sich auf genau das, was es zu zeigen gilt. Auf diese Weise erzeugen sie eine Stimmung, die für einen kurzen Moment der Glückseligkeit ein Fenster ins unendliche Nichts öffnet.
An kunstsinniger Kundschaft mangelte es mir nie, doch die Schwertmeister-Legenden, die sich im Lauf der Jahre immer dichter um mich rankten, konnte ich nicht zum Verstummen bringen, obwohl ich selber beharrlich über diesen Teil meiner Vergangenheit schwieg.
Wer schweigt, scheint einverstanden zu sein – somit habe ich wohl zu meinem unerwünschten Nachruhm beigetragen, ebenso zum Umstand, dass mich manche Leute geradezu als Kensei, als Schwertheiligen, verehrten. Mir war dies alles äusserst unangenehm, aber die Kraft, die Wahrheit öffentlich zu machen, hatte ich nicht, zumal ich davon ausgehen musste, dass sie sowieso niemand hören wollte.
Deshalb habe ich jetzt, im Angesicht meines baldigen Ablebens, zum Mittel der schriftlichen Lebensbeichte gegriffen. Ich baue darauf, dass die Nachwelt einem Verstorbenen eher glaubt als die Mitwelt einem Lebenden.
Nun neigt sich mein Bericht dem Ende zu. Meine Kräfte schwinden. Ich werde das Papier dem Mönch übergeben, der mir morgen mein Essen bringt, und ihn bitten, die Niederschrift meines Geständnisses unter die Leute zu bringen.
Dann werde ich mich, am Eingang meiner Höhle sitzend und über das weite, frühlingshafte Land blickend, in mein Inneres versenken und langsam ins Reine Land hinüberdämmern, bis es mich ganz umfangen haben wird, das unendliche Nichts.
Der historische Miyamoto Musashi wird in Japan als Kensei, als Schwertheiliger, hoch verehrt. Die Erzählung «Schwertmeister» jedoch fusst auf dichterischer Freiheit macht aus dem Helden einen Antihelden. Um der Leserschaft die Unterscheidung zwischen Fakten und Fiktion zu erleichtern, sei das Leben des wahren Musashi im Folgenden kurz skizziert.
Miyamoto Musashi lebte von 1584 bis 1645 und entstammte einer Familie des altjapanischen Schwertadels. Schon früh fiel er durch seine Körpergrösse, Kraft und Wildheit auf. Noch halb ein Knabe, soll er bereits Arima Kihei, einen kampferprobten Samurai, bei einem Duell getötet haben.
Als junger Erwachsener machte er sich zur sogenannten Kriegerwallfahrt auf. Er zog durch die Lande und mass sich mit anderen Schwertmeistern im Kampf. Innert dreizehn Jahren bestritt er sechzig Duelle und gewann sie alle.
Er schuf einen neuartigen Kampfstil mit zwei Schwertern, die er aber nur einsetzte, wenn er es mit mehreren Gegnern gleichzeitig zu tun hatte. Bei reinen Zweikämpfen focht er lediglich mit einem Holzschwert, das er jeweils selber schnitzte.
Sein letztes und zugleich berühmtestes Duell ist jenes gegen Sasaki Kojiro, den besten Samurai seiner Zeit. Musashi traf, um seinen Herausforderer zu verwirren, absichtlich mit zweistündiger Verspätung am vereinbarten Kampfplatz ein. Die Begegnung war rasch entschieden. Musashi besiegte Kojiro innert zweier Sekunden mit einem Holzknüppel, den er aus dem Ersatzruder eines Boots geschnitzt hatte.
Das Geheimnis seines Könnens bestand darin, sich voll und ganz auf den Sieg zu konzentrieren und immer von Neuem so zu handeln, wie man es von ihm am wenigsten erwartete. Dazu Musashi in seinem «Buch der fünf Ringe»: «Durch den ständigen Wandel der Technik bei einem Kampf nutzt man das Überraschungsmoment. Man soll dem Gegner den See geben, wenn er den Berg erwartet, und umgekehrt. Dies ist der Weg der Kampfkunst.»
Mit ungefähr dreissig Jahren legte Miyamoto Musashi das Schwert nieder und wandte sich der Kalligrafie und Tuschmalerei zu; in beiden Künsten brachte er es zu hoher Meisterschaft.
Als der gut Sechzigjährige sein Ende nahen fühlte, zog er sich in die Höhle Reigando beim buddhistischen Tempel Unganzenji nahe der Stadt Kumamoto zurück, um sein «Buch der fünf Ringe» zu schreiben. Diese Anleitung zum Schwertkampf enthält strategische und psychologische Ratschläge, die heute noch eine begeisterte Leserschaft in aller Welt finden.
Musashi war ausgesprochen religiös; er praktizierte als Buddhist und widmete sich unter anderem auch dem Aufbau mehrerer Tempel. Über das Prinzip der Leere, das im buddhistischen Denken eine zentrale Rolle spielt, schrieb er: «Es betrifft die Angelegenheiten, die jenseits des menschlichen Verstandes liegen. Man muss zu dem erwachen, was wirklich existiert, um zu verstehen, was nicht existiert. Kann jemand etwas nicht begreifen, soll es deshalb aber nicht als ‹Leere› oder ‹Nichts› bezeichnet werden; Unverständnis ist einfach eine Form der Unwissenheit.»
Und weiter: «In der Welt des ‹Nichts› gibt es nichts Böses, nur das Gute besteht. Wissen und Talent stossen in der Menschenwelt auf Grenzen, das gilt sogar für die Kampfkunst. Darum soll der Geist dem ‹Nichts› gehören. Dieses bedeutet: Unbegrenzt-Sein.»
Der vermutlich an einem Lungentumor erkrankte Miyamoto Musashi starb am 19. Mai 1645 meditierend in der Höhle Reigando.
© Hans Herrmann
Geschrieben 2013, überarbeitet 2022