Wie ein Steinwurf Wunder wirkte

Die Sagrada Familia in Barcelona, der Petersdom im Vatikan, das Fraumünster in Zürich, Notre-Dame de Paris, der Kölner Dom und viele andere: Kirchen sind beliebte Tourismusziele. Im Vigezzotal berühmt, auswärts kaum bekannt ist die Basilika in Re, ein fast surrealer Prachtbau mit spannender Geschichte.

Als ich vor einem Jahr von Domodossola durch das Vigezzotal und das Centovalli Richtung Locarno fuhr, zeigte sich kurz nach der Haltestelle Re durch das Zugfenster eine Kirche wie in einem Märchen. Gross, ja riesig, mit einer Zentralkuppel fast wie die Hagia Sophia in Istanbul, dazu mit Annexbauten und kleineren Nebenkuppeln: So ragte dieses byzantinische Traumbild in der Abgeschiedenheit der piemontesischen Alpen auf. Hatte ich richtig gesehen? Eine solche architektonische Pracht in einem kleinen Bergdorf?

 

Ich hatte keine Chance mehr, meine Sichtung zu verifizieren, der mächtige Dom war hinter den Felsen bereits auf Nimmerwiedersehen verschwunden. Ein Blick auf das Handy belehrte mich: Ja, ich hatte richtig gesehen. In Re steht das Sanktuarium zur blutenden Madonna, eine Wallfahrtskirche von bedeutendem Rang, gemäss dem Webportal wisitossola.it einer der «wichtigsten Sakralbauten der Region Piemont».

 

Diesen Bau wollte ich unbedingt sehen. Nicht nur fünf Sekunden vom Zug aus, sondern richtig. Ein Jahr später, in der ersten Julihälfte 2025, ist es so weit: Stehend eingepfercht zwischen Mitreisenden und ihren Bergen von Gepäck, fahre ich im Zug von Brig durch den Simplontunnel nach Domodossola. Von dort geht es in der ebenfalls gut besetzten, aber immerhin noch ein paar freie Sitzplätze aufweisenden Regionalbahn durch das Vigezzotal, das erst ab der Schweizer Grenze den bekannteren Namen Centovalli trägt.

 

Links das Dorf, rechts die Bahn

Aufmerksam blicke ich andauernd nach links, um nur ja nicht meinen Ausstiegsort zu verpassen. Links liegt nämlich die Basilika und damit das Dorf, das weiss ich noch vom letzten Mal. Was ich nicht mehr weiss: Die Bahnstation mit der Ortsanschrift befindet sich rechts. Fast verpasse ich sie deshalb. In letzter Sekunde gelingt es mir, aus dem haltenden Zug zu hasten, bevor er seine gemächliche Schleichfahrt durch das dicht bewaldete Alpental wieder aufnimmt.

 

Aber wo ist die Kirche? Bin ich überhaupt richtig ausgestiegen? Auf einem Fussweg erklimme ich die Höhe des italienischen Dorfes und gehe entlang der Hauptstrasse vielleicht 50 Meter in nordöstlicher Richtung. Und da, nach einer Kurve, zeigt sich ganz plötzlich das bauliche Wunder, als wäre es frisch wie eine Pilzkolonie aus dem Boden geschossen: das Sanktuarium in seiner ganzen pittoresken Kuppelpracht, fast wie eine Vorahnung des Neuen Jerusalem. Erneut kann ich es kaum glauben, dass in einem bescheidenen Bergdorf ein derart majestätischer Bau steht.

 

Innert weniger Minuten habe ich die Kirche erreicht. Sie besteht aus zwei Trakten: der ursprünglichen, 1628 vollendeten und eher unscheinbaren Wallfahrtskirche und dem fantastischen Kuppelbau, der noch nicht einmal 70-jährig ist. Gerade findet im Altbau eine Messe statt, kurz vor Mittag an einem gewöhnlichen Montag. Einem an der Tür angehefteten Zettel ist zu entnehmen, dass hier nach festgelegtem Zeitplan an jedem Wochentag mehrere Messen gelesen werden. Nicht von ungefähr: Immerhin handelt es sich bei diesem Sanktuarium um eine sogenannte Basilika minor, also ein hochrangiges katholisches Gotteshaus.

 

Ein schlechter Verlierer

Eine grosse, mehrsprachige Tafel beantwortet die Frage, wie ein Dorf mit 700 Einwohnern in den Südalpen abseits der grossen Touristenströme zu einer solchen sakralen Anlage kam. Die Geschichte begann am 29. April 1494, als einige junge Männer auf dem Dorfplatz ein traditionelles Spiel spielten. Es galt, mit einem Stein eine Münze auf einem Holzzylinder zu treffen. Einer der Burschen, der besonders glücklos war, schleuderte im Zorn den Stein weit von sich – und traf unbeabsichtigt das Marienfresko an der damaligen Kirche. Sogar der Name des Steinschleuderers ist überliefert: Er hiess Giovanni Zuccone und wurde, als er sah, dass er Maria an der Stirn getroffen hatte, von Reue erfasst.

 

Am nächsten Tag zeigte sich, dass das Bild aus der Stirnwurde blutete. Zwanzig Tage soll das Phänomen angedauert haben, danach versiegte der Blutfluss. Das Bild entfaltete – vielleicht auch, weil sich der Täter reuig gezeigt hatte – wundersame Wirkung: Kranke, die vor dem Bild beteten, wurden wieder gesund. Das Wunder wurde von offizieller Stelle anerkannt, und bald setzte ein wachsender Pilgerstrom aus Italien und der Schweiz ein. Noch heute feiern die Leute im Tal zwischen dem 29. April und dem 1. Mai ein Fest zum Gedenken an das Blutwunder. Es zieht jeweils viele Teilnehmende an, die zu Fuss nach Re wallfahren.

 

Im frühen 17. Jahrhundert wurde rund um das Gnadenbild eine neue Kirche errichtet, doch die Pilgerscharen erforderten schliesslich ein noch grösseres Gebäude. Damit begonnen wurde 1922, und 1958 war die heutige Basilika fertig: ein Bauwerk im byzantinischen Stil, erschaffen aus einheimischem Stein. Mehr als 50 Meter ragt die Hauptkuppel in die Höhe.

 

Der Gegenstand der Verehrung, das Madonnenbild, ist in einem Zwischentrakt zu sehen. Es ist in einen Altar integriert und eher kunstlos ausgeführt. Es zeigt die Muttergottes, die dem Jesuskind die Brust gibt, eine Maria lactans also, eine stillende Maria. Dieses Bild soll vor gut 500 Jahren geblutet haben? Mir als Berner Reformiertem kommt der sogenannte Jetzterhandel in den Sinn, ein religiöser Skandal, der ab 1507 die Aarestadt mehrere Jahre in Atem hielt. Dabei spielte unter anderem ein Madonnenbild eine Rolle, das blutende Tränen weinte. Das Ganze war Betrug – und flog als solcher auf.

 

Tatkräftig und kunstfertig

Wie verhielt es sich damals in Re, ungefähr zur selben Zeit? Angesichts der Tatsache, dass das europäische Pilgerwesen gerade in dieser Epoche in hoher Blüte stand und Orte, die über eine Wallfahrtskirche verfügten, mit stattlichen Einnahmen rechnen durften, denkt man heutzutage eher an spätmittelalterliche Geschäftstüchtigkeit denn an authentische Wunder. Und doch freut man sich angesichts von Wallfahrtsbauen auch über die Tatkraft und Kunstfertigkeit, die gläubige Menschen in aller Welt aufbrachten und immer noch aufbringen, um das Göttliche zu ehren.

 

Unter der Zentralkuppel der Kirche von Re ist überraschenderweise nichts von geistlicher Prachtentfaltung zu sehen. Auch Besucher sind an diesem Tag nur wenige anzutreffen. Die riesige Halle, umrahmt von schmucklosen Säulen, wirkt schlicht, fast klassisch nüchtern. Das Tageslicht dringt durch modern gestaltete Farbfenster mit abstrakten Motiven ins Innere und erhellt sanft den Raum mit seinen blank polierten Bodenfliesen. An zwei Wänden sind die Namen der Kinder vermerkt, die hier in den letzten Jahrzehnten getauft wurden, an einer dritten Wand ist eine abgewandelte Kopie des Wunderbildes zu sehen. Überhaupt waren früher viele Kopien der Blutmadonna in Umlauf, einige von ihnen kamen sogar bis nach Amerika.

 

Wieder draussen vor der Kirche. Das kleine Dorf ruht in hochsommerlicher Mittagshitze. In einer nahen Trattoria sitzen Leute an den Aussentischen und lassen es sich schmecken. Im Hintergrund erheben sich malerisch die Berge. Auf dem kleinen Platz vor der Basilika sprudelt ein Brunnen, eine Mutter ruft ihren kleinen Buben zu sich. Ein Blick zurück zeigt den Priester, der die Messe beendet hat und ins Freie getreten ist: Ein vielleicht 35-jähriger Mann mit langem schwarzem Bart und noch längerer schwarzer Soutane. Er hat das Handy gezückt und schaut konzentriert auf den Bildschirm. Studiert er gerade eine geistliche Tageslosung? Oder checkt er seine Posts auf Social Media? Das bleibt sein Geheimnis.

 

© Hans Herrmann

Geschrieben im Sommer 2025