Das bunte Band der Burgdorfer

Das unverwüstlichste Stück Burgdorfer Geschichte ist wohl die Solennität, im Volksmund Solätte genannt. Dieser sommerliche Anlass, eine eigentümliche Mischung aus weihevoller Feier und volkstümlichem Fest, findet seit 1729 jedes Jahr in praktisch unveränderter Form statt. Die Solätte ist das Band, das Generationen von Burgdorferinnen und Burgdorfern miteinander verbindet und sie dauerhaft im Geist der Emmestadt imprägniert.

Heute Morgen war der Himmel noch trüb, und zwischendurch hat es sogar leicht genieselt. Kaum zu glauben bei diesem freundlichen Nachmittag, der soeben angebrochen ist. Nur noch ein paar dekorative weisse Wölkchen segeln friedlich über den Horizont, und am blauen Frühsommerhimmel scheint mild die Sonne.

 

Das ist unser berühmtes Solätte-Wetter: Am Vortag regnerisch und kühl, am frühen Morgen des Festtags noch wechselhaft, gegen Mittag freundlicher und am Nachmittag schliesslich sonnig und warm. So eben, wie es am letzten Junimontag, wenn Burgdorf die Solätte feiert, immer ist und immer sein wird.

 

Ach so, Sie sind fremd hier, haben noch nie von der Solätte gehört und wissen nicht, was all die Leute, die erwartungsvoll und festtäglich gekleidet die Gassen und Strassen säumen, zu bedeuten haben. Da sind Sie bei mir gerade recht, denn ich bin gebürtiger Burgdorfer, habe hier meine Schulzeit durchlaufen und trage, wie fast alle Einheimischen, auf Lebzeiten das Solätte-Virus in mir. Gerne erzähle ich Ihnen von diesem Fest, das gerade in vollem Gang ist.

 

Atem, Seele, Herz

Also, die Solätte heisst eigentlich Solennität, was sich vom lateinischen Wort solennitas herleitet. Das tönt zwar gebildet und vornehm, bedeutet jedoch nichts weiter als «Feier». Aber aufgepasst: Diese Feier hat es in sich.

Die Solätte ist das alljährliche Fest der Schuljugend und wird von der ganzen Bevölkerung hingebungsvoll gefeiert. Sie ist das unsichtbare Band, das die Burgdorferinnen und Burgdorfer seit Jahrhunderten mit den Altvorderen verbindet. Sie ist eine Tradition, die nur versteht, wer in ihr aufgewachsen ist. Sie ist der Atem, die Seele, das Herz der Zähringerstadt an der Emme.

 

Zur Solennität gehören verschiedene grosse und kleine Bräuche. Darüber ist in Zeitungen und Schriften schon so viel geschrieben worden, dass es Wasser in die Emme getragen wäre, wenn ich mich nun auch noch ausführlich dazu äussern würde. Aber Sie sind ja kein Burgdorfer und wollen von mir etwas über die Solätte hören… Ich werde Ihnen also eine skizzenhafte Schilderung liefern.

 

Mit Trommeln und Pfeifen

Moment – hören Sie die näher rückenden Trommelklänge auch? Der Nachmittagsumzug hat begonnen und bewegt sich durch die obere Altstadt auf die Staldenbrücke zu. Sobald die Spitze die Brücke erreicht hat, wird der Umzug für uns, die wir hier bei der Wettersäule stehen, sichtbar werden.

 

Da, sehen Sie? Jetzt gelangen die ersten Gruppen in unser Blickfeld, zuerst die Kadetten in ihrer feldgrauen Uniform, dann ein Dutzend mittelalterlich gewandeter Personen, das sogenannte Zähringervolk, das an den Stadtgründer Herzog Berchtold V. von Zähringen und seinen Tross erinnert.

 

Ah, und hier kommen meine Lieblinge, die Tambouren und Pfeifer in ihrer kleidsamen Uniform mit hohen Stiefeln, altertümlichem Soldatenrock und Dreispitz! Aber ich lasse mich ablenken, statt Ihnen, wie angekündigt, die Grundzüge der Solennität zu umreissen. Lassen wir also den Spielmannstrupp aus der Franzosenzeit trommelnd und pfeifend seines Wegs ziehen, während ich versuche, Ihnen kurz und prägnant die Solätte zu erklären.

 

Am besten beschränke ich mich auf Stichworte, kunterbunt gemischt, wie sie mir gerade zufallen. Dieses Sammelsurium mag Ihnen in verdichteter Form immerhin eine ungefähre Vorstellung vom Fest vermitteln.

 

Locken, Blumen, Fahnen

Der Zapfenstreich: So nennt sich der vorabendliche Festauftakt, der von der Kadettenmusik bestritten wird. Die Zapfenlocken haben zwar nichts mit dem Zapfenstreich zu tun, aber sehr wohl mit der Solätte – sie bildeten noch zu Mutters Zeiten die Festfrisur der Schülerinnen.

 

Unterdessen sind die langen, spiralförmigen Locken modernen Frisuren gewichen; was geblieben ist, sind die weissen Kleider der Mädchen, die Blumenkränze im Haar und die ungezählten Blumenbögen, Blumenkörbe und Blumensträusse, die sie bei den Umzügen mit sich führen, Rosen, Kornblumen, Rittersporn, Bartnelken und Geissbart.

Auch die Buben sind Blumenträger – eine Rose im Knopfloch, einen Kranz an der Fahne, ein Gesteck in der Hutte … Blumen, wohin das Auge blickt, bereits am feierlichen Morgenumzug der Schulklassen durch die Oberstadt hinauf in die Kirche, und erst recht jetzt, am grossen nachmittäglichen Festzug durch die gesamte Altstadt hinunter auf die Schützenmatte.

 

Entschuldigen Sie, ich gerate ins Schwärmen, statt mich wie angekündigt auf Stichworte zu beschränken.

 

Stichwort «Grosse Glocke»: Unter ihrem feierlichen Läuten bricht der Festtag an. Nur an der Solätte ist diese Glocke alleine zu hören, sonst läutet sie immer im Verbund mit ihren kleineren Schwestern im Turm der Stadtkirche.

 

Stichwort «Solennitätstaler»: Diese Münze ist eine bleibende Erinnerung an das Fest. Verteilt wird sie nach dem Morgenumzug an die Erstklässler. Früher mussten sich die Knirpse in der Kirche zum Dank vor den Mitgliedern des Festausschusses verneigen, heute genügt ein Händedruck.

 

Stichwort «Solättelied»: Dem Fest sind zwei Lieder gewidmet. Eines wurde für die grossen und eines für die kleinen Schüler geschrieben, wobei Letzteres die grössere Popularität geniesst. Neuerdings gibt es sogar ein drittes Solennitätslied, vom Ausschuss in Auftrag gegeben und von einer Luzerner Musikerin komponiert. Wird es sich etablieren können? Ich weiss nicht… Wir Burgdorfer sind, wenn es um Neuerungen bei der Solätte geht, sehr zurückhaltend. Heiliges soll man nicht antasten.

 

Wie schon unsere Grosseltern

Ja, die Solätte ist den Burgdorfern heilig, und darin liegt denn auch der Grund, weshalb das Fest vom Spätbarock bis in die Gegenwart in seinen Grundzügen unverändert geblieben ist. Aber ich werde ja schon wieder ausufernd…

Zum Mittagessen gibt es den traditionellen Erdbeerkuchen. Nach dem Nachmittagsumzug führt die Schülerschaft auf der Schützenmatte ihre einstudierten Reigen auf, dann beginnt der allgemeine Festbetrieb. Dabei kommen Alt und Jung auf ihre Kosten: Man sitzt gesellig am Biertisch, sucht die Marktstände entlang der Kleinen Emme auf, verpflegt sich am Bratwurstgrill, Kinder fahren Karussell, und vom gedeckten Musikantenpodest, dem sogenannten Gygerläubli, ertönen die traditionellen Polonaise-Märsche, zu denen sich schon Grossmutter und Grossvater die Hände reichten.

 

Am Abend ist das Fest für die Kinder offiziell zu Ende, aber viele Jugendliche und Erwachsene denken noch lange nicht ans Aufhören. In der Oberstadt wird bis weit in die Nacht hinein weitergefeiert und zünftig gebechert, nicht nur zur Freude von Anwohnerschaft, Behörden und Polizei. In den letzten Jahren ist die alkoholbeflügelte Geselligkeit verschiedentlich aus dem Ruder gelaufen.

 

Ernst und heiter

Dabei begann alles sehr sittsam. Entstanden ist die Solätte aus einer älteren Frühlingsfeier mit kirchlichem Hintergrund. 1729 ersetzte Pfarrer Johann Rudolf Gruner diesen traditionellen «Umzug mit Posaunen und Psalmensingen» durch ein von ihm neu gestaltetes Fest, bei dem sich züchtiger Ernst und lebensfrohe Heiterkeit harmonisch vereinten. Diese erste «Schulsolennität» gefiel der Bevölkerung und den Ratsherren so gut, dass deren Gründer zur Belohnung eine Dublone zu sechs Kronen erhielt.

 

Aber Sie hören mir ja gar nicht mehr zu… Ah, ich sehe, jetzt ziehen gerade die weiss gewandeten Mädchen mit den Blumenbögen vorüber… Ein hübscher Anblick, nicht wahr?

 

Was, Sie finden das seltsam? Weshalb denn? Ach so, Sie stossen sich an den weissen Kleidern, finden dieses Tenü altmodisch, brummeln etwas von falscher heiler Welt, von spiessigen Traditionen…

 

Ich will nicht mit Ihnen streiten. Sie sind nicht von hier, kennen das Solätte-Fieber nicht, sind nie mitmarschiert, haben nie auf der Schützenmatte eine Polonaise getanzt. Die Solätte, das habe ich bereits erwähnt, kann man nur verstehen, wenn man in Burgdorf aufgewachsen ist. Geniessen Sie einfach den Umzug und halten Sie sich mit unwillkommenen Kommentaren zurück.

 

Sehen Sie, da kommt die Stadtmusik… Auch sie blickt auf eine lange Geschichte zurück. Gegründet wurde sie im Jahre… Nein, ich verschone Sie vor weiteren Ausführungen, sonst denken Sie definitiv, wir Burgdorfer lebten nur in unseren Traditionen. Vielleicht stimmt das ja sogar ein bisschen, aber eigentlich fühlen wir uns dabei ganz wohl – jedenfalls am letzten Montag im Juni.

 

© Hans Herrmann

Gekürzte Fassung aus: Burgdorf, Nabel der Welt mit stolzer Geschichte. Hrsg. Daniel Gaberell, 2009