In der Krauchthaler Sandsteinlandschaft stehen zwei sonderbare Felsformationen, die wie von Menschenhand geschaffen wirken. Zeugen eines alten religiösen Kultes oder bloss Laune der Natur?
Zwischen Krauchthal und Bolligen, am äussersten Rand des Emmentals vor der Toren Berns, liegt die Ruine Geristein. Am südwestlichen Ende des Felssporns, auf dem sie errichtet ist, hält dicht an der Strasse ein sonderbares, geradezu bizarres Monument Wache: ein hoch aufragender Sandsteinzahn, an den sich eine zweite Felsformation anlehnt. Diese ähnelt der riesigen Nachbildung eines Elefantenkopfs, mit der typischen Schädelform und elegant gebogenem Rüssel. Wer auf den Hügel klettert und unter den Rüssel steht, fühlt sich wie unter dem wuchtigen Tor zu einer Fantasiewelt – oder unter dem versteinerten Hals eines urzeitlichen Monsterwesens. Selbstverständlich hat dieses Sandsteingebilde einen Namen: Es ist der Elefant von Geristein.
Fast wäre man versucht zu glauben, er sei von Menschenhand geschaffen. Und doch handelt es sich vermutlich um eine Laune der Natur. Ein tschechisches Forscherteam hat an anderen Formationen untersucht, unter welchen Bedingungen auffällige Sandsteingebilde entstehen. Solche kommen in etlichen Gegenden der Welt vor, etwa in Tschechien, Venezuela oder im Arches Nationalpark in Utah. Offenbar bestimmen die Spannungsverhältnisse im Fels, welche Form er im Lauf der Jahrhunderte annehmen wird. Wo ein Gewicht auf den Sandstein drückt, hält er der Erosion durch Wind, Wasser, Frost oder Salzen länger stand als die umliegenden Partien. Auch Risse oder die Sonneneinstrahlung wirken sich aus. Die solcherart beeinflussten Stellen bleiben zuletzt als Säulen oder Bögen stehen.
Steinmetze am Werk?
Anderer Ansicht ist der Freiburger Burgenforscher und Historiker Christoph Pfister. Von einer natürlichen Entstehung des Elefanten von Geristein sei kaum auszugehen, schreibt er auf seiner Website «Dillum». Wörtlich: «Eine erodierende Kraft, sei dies nun Wasser, Sand oder Wind, hätte das ganze schmale Ende des Felsgrates weggeschliffen, nicht einen Bogen hineingebohrt.» Vielmehr hätten die Steinmetze, die seinerzeit die Burg gebaut hätten, nebenher und gewissermassen zum Spass das Ende des Felssporns auch noch bearbeitet.
Pfister vermutet im Elefantenbild, das er – etwas widersprüchlich – als «Naturwunder ersten Ranges im Bernbiet» bezeichnet, eine religiöse Bedeutung: Dieses Tier sei im altchristlichen, sprich katholischen Glauben ein bedeutendes Sinnbild gewesen. So galt der Elefant einst als Symbol der Taufe, weil er seinen Nachwuchs angeblich im Wasser zur Welt bringt. Religiöse Bedeutung hat er aber vor allem im Hinduismus und Buddhismus.
Auch die Burgruine selbst, die sich ein paar Minuten Fussmarsch oberhalb des Elefanten auf dem Sporn befindet, bietet Interessantes, ja Merkwürdiges. Die Burg war der Stammsitz der Freiherren von Geristein. Im 11. Jahrhundert als einfache Holzburg errichtet, baute man sie später zu einer steinernen Anlage um. Sie diente zum Schutz des Weges zwischen der Stadt Bern und dem Aargau. 1298 wurde sie von den Bernern zerstört und nicht wieder aufgebaut. Zu sehen sind heute noch ein Teil des imposanten Rundturms sowie Reste des Mauerwerks.
Die Wand des südlichen Burggrabens weist eine Nische auf, die leer ist und keine Bedeutung zu haben scheint, aber an eine Altarnische für eine Heiligenfigur erinnert. Laut Christoph Pfister war Geristein nicht nur Wehranlage, sondern ein religiös geweihter Ort.
Die Höhle des Gottes
Ein Hauch von Mystik und Geheimnis umweht auch die Höhle, die sich am westlichen Rand der Burgplattform befindet: Sie ist klein und niedrig, hat einen kreisrunden Eingang und einen ovalen Grundriss. Hatte auch sie einst sakrale Bedeutung? Pfister denkt an eine Kulthöhle, an die Geburtsstätte eine Gottes, zu der man einst gepilgert sei.
Bei solchen Vermutungen gerät in erster Linie der Gott Mithras ins Blickfeld, dessen Kult im römischen Reich weit verbreitet war und in Konkurrenz zum jungen Christentum stand. Mithras war ursprünglich ein Gott aus Persien. Geboren in einer Höhle, trat er ans Licht, besiegte den unterweltlichen Stier und erneuerte so die Welt – gleich der Sonne, die nach dem 21. Dezember wieder erstarkt und das Leben auf der Erde neu weckt. Deshalb nannten die Römer diesen Gott auch Sol Invictus, unbesiegbarer Sonnengott. Sein Geburtstag fiel auf den 25. Dezember; dieses Fest wurde von den Christen im 4. Jahrhundert übernommen und zum Geburtstag Jesu umfunktioniert.
Bettler und Landstreicher
Ob die Kaverne von Geristein aber wirklich ein Mithräum war? Zweifel sind erlaubt, zumal sich keine mündliche oder schriftliche Erinnerung erhalten hat. Eher dürfte es sich hier um einen Unterschlupf für Bettler, Landstreicher und Taglöhner gehandelt haben; der nach der Zerstörung der Burg vereinsamte Platz bot sich als Lagerstätte für Randständige geradezu an. Vergleichbares findet sich an den Burgdorfer Gysnauflühen, wo gleich mehrere sogenannte «Bättlerchucheli», also «Bettlerküchen» in Form kleiner Sandsteinhöhlen, anzutreffen sind.
Pfisters Überlegungen rund um die Ruine Geristein und den Sandsteinelefanten sind spannend, aber auch umstritten. Er geht nämlich davon aus, dass sich die klassische Geschichtsschreibung in viel zu weit gefassten Zeiträumen bewege; in Wahrheit lägen zwischen der Römerzeit und heute nicht zweitausend, sondern bloss ein paar hundert Jahre. Die kulturellen Fortschritte seien bedeutend schneller erfolgt, als es in den Geschichtsbüchern stehe, und Griechisch, Latein sowie Hebräisch seien von einer einstigen Grossmacht zu Verwaltungszwecken als Kunstsprachen erfunden worden. Seiner Überzeugung nach entstand die Burg Geristein nicht, wie die etablierte Historie lehrt, vor rund tausend Jahren, sondern erst in den 1740er-Jahren.
Seltsames Fluhbabi
Vier Kilometer vom Geristeiner Elefanten entfernt gibt es eine zweite eindrückliche Formation im Sandstein zu bewundern: das Fluhbabi, auch Zigergütsch oder Giraffe genannt. Es handelt sich um einen seltsamen Felspfeiler, der am Wanderweg zwischen dem Dorf Krauchthal und der südwestlich gelegenen Klosteralp an einer einsamen Stelle auf der schmalen, bewaldeten Krete aufragt. Der Pfeiler sitzt auf einem halbkugeligen Steinsockel und ist vielleicht fünf, sechs Meter hoch. Je nach Fantasie und Betrachtungswinkel wirkt er wie eine geheimnisvoll verhüllte Heidenpriesterin aus grauer Vorzeit, eine überdimensionierte Schachfigur, ein Kopf ohne Gesicht, eine Sphinx oder eine abstrakte Skulptur des englischen Künstlers Henry Moore.
Was ist natürlich, was nachbearbeitet? Niemand vermag es zu sagen. Wenn es auch prickelnder wäre, diese Felsformation als monumentales Götzenbild eines uralten, schaurigen Kultes zu deuten, ist sie vermutlich doch eher ein Erzeugnis natürlicher Verwitterung. Wenn auch eines, das im Emmental seinesgleichen sucht.
© Hans Herrmann
Geschrieben 2015, überarbeitet 2023