Zurück zur Scholle

Der Bauernstand gerät immer mehr unter Beschuss und Generalverdacht. Dabei waren wir einmal alle Bauern. Und täten gut daran, uns mit dem Gedanken vertraut zu machen, dereinst wieder zum Pflug zu greifen. Denn die Rückkehr zum Agrarischen ist unausweichlich, irgendwann. Aber es wird kein Rückschritt sein, sondern ein Heimkommen: zu uns selbst, zu den Wurzeln des Menschseins.

In einer hochtechnisierten, hyperrationalen, entseelten, naturfernen, ausbeuterischen und von alten Traditionen abgekoppelten Welt leben wir. Von Bodenhaftung ist, zumindest in der westlichen Hemisphäre, wenig übrig geblieben. Wir rudern orientierungslos im leeren Raum. Daran ändern auch technologische Innovationen, wissenschaftliche Studien, eine überzüchtete Rechthabermoral, utopische Weltretter-Ideologien und die schier unbegrenzten Entfaltungsmöglichkeiten des Individuums nichts mehr. Im Westen herrscht Abenddämmerung. Und langsam, aber sicher geht es der Nacht entgegen.

Einer der Gründe, vielleicht der wichtigste, ist der Verlust des Menschenverstands. Wenn er gesund ist, dieser Menschenverstand, nennt man ihn Klugheit. Zu den klügsten Menschen in unserer Gesellschaft gehörten schon immer und gehören noch immer die Bauern. Sie kennen das Leben aus erster Hand. Doch sie stellen in den heutigen Dienstleistungsgesellschaften nur noch eine immer kleiner werdende Minderheit. Der Bauernstand hat seine prägende Kraft verloren.

Schlimmer noch: Er wird massiv beschossen von Kreisen, die vergessen haben, dass das tägliche Brot nicht im Supermarkt wächst. Die Bauern, sagen ihre Gegner, seien ständig am Jammern über ihre ökonomische Situation, schuld an der Verschmutzung der Gewässer, Auslaugung der Böden und Verminderung der Artenvielfalt, bedeutende Mitverursacher der Klimaerwärmung, ewiggestrig und engstirnig.

Das sagen Leute, die in ihrer urbanen Isolation keine Vorstellung von der bäuerlichen Lebenswelt haben. Einer Lebenswelt, die in die Natur eingebettet ist, in den ewigen Kreislauf von Werden, Wachsen, Blühen, Reifen, Ernten und Vergehen, und die den Finger stets am Puls der lebensspendenden Urkraft hat. Es wird Zeit, sich von den morschen Glas- und Stahlpalästen der Postmoderne zu verabschieden und in den Schoss der Agrargesellschaft zurückzukehren.

Die Essenz des Lebens

Die agrarische Lebensführung ist jene Daseinsform, die einer sesshaften Bevölkerung am angemessensten ist. Die Bebauung des Bodens, das Ackern, Säen und Ernten, das Beobachten des Wetters, die Furcht vor Gewitter und Hagel, die Dankbarkeit für Sonne und Regen, dazu die spirituelle Verbundenheit mit einer Gottheit, «die im Frühling von unten stösst und treibt», wie mir ein Bauer einst wörtlich sagte – das sind die Ingredienzen des einfachen, menschgemässen Lebens.

Wenn ich von den Gassenschluchten, Strassenlabyrinthen und stereotypen Vorortquartieren einer beliebigen grösseren Schweizer Stadt wieder hinaus aufs Land gelange, kommt es mir vor wie eine grosse Befreiung. Das Kulturland mit seinen hügeligen Wiesen, je nach Jahreszeit weissen, braunen, gelben, grünen oder goldenen Äckern, den stillen Wäldern und den eigestreuten Dörfern mit ihren Bauernhäusern, die sich natürlich in die Landschaft einfügen: In dieser Sphäre atme ich frei, hier fühle ich mich zu Hause.

Zurück zur Agrargesellschaft also, und zwar zu einer möglichst ursprünglichen. Mit der Bauernfamilie als kleinster Zelle, die sich auf dem eigenen Hof selbst versorgt, sich im wahrsten Sinn des Wortes von ihrer Hände Arbeit ernährt, im Einklang mit dem Rhythmus der Natur.

Die Kirche mitten im Dorf

Die heutigen Dörfer, die ihren ländlichen Charakter vielfach verloren haben und zu unschön wuchernden Stadtvororten geworden sind, sollen sich wieder zu dem wandeln, was ein Dorf im ursprünglichen Sinn ist: eine bäuerliche Siedlung, in dem es auch Handwerksbetriebe gibt, dazu ein paar unverzichtbare Dienstleister wie den Notar, die Bank, die Schule sowie medizinische Versorgung für Mensch und Tier.

Und natürlich die Kirche, denn die Landleute sind spirituelle Menschen, weil sie ahnen, dass ihr Leben nicht nur in den eigenen Händen liegt, sondern ebenso vom Walten einer höheren, unverfügbaren Macht abhängt. Dieses Eingebundensein in eine transzendente Wirklichkeit bewahrt die Menschen vor Selbstüberschätzung und vermittelt ihnen ein Gefühl für das Mass, das Massvolle, das Augenmass.

Auch Kleinstädte haben im Gefüge einer agrarisch ausgerichteten Gesellschaft ihren Platz, als regionale Wirtschafts- und Bildungszentren, auch als Hort von Kunst, Kultur und Reflexion. Die Grossstadt hingegen, jener menschenverschlingende Moloch der Gegenwart, wird irgendwann bloss noch als Symbol existieren, als negativer Gegenentwurf zur bäuerlichen Lebenswelt.

Manche gesellschaftspolitischen Fragen stellen sich in einem Gemeinwesen von bäuerlichen Selbstversorgern gar nicht erst. Die Gleichstellung von Mann und Frau zum Beispiel ist hier eine naturgegebene Selbstverständlichkeit; beide haben ihre Zuständigkeitsbereiche, in denen sie souverän und gleichberechtigt schalten und walten. So war es bereits in den Agrargesellschaften des abendländischen Mittelalters. Eine gesellschaftliche Dominanz der Männer begann sich erst um 1100 herum herauszubilden, als die Lebenssphäre der Stadt an Bedeutung gewann und damit das Handwerkertum, das traditionell in Männerhänden lag.

Der Traum vom einfachen Leben

Weitere Vorteile einer neuen Hinwendung zur Acker- und Viehwirtschaft sind offensichtlich: Die grossindustrielle Ausbeutung von Rohstoffen und die damit verbundene Umweltbelastung verringern sich massiv; Globalisierung und Monopolisierung schrumpfen auf ein erträgliches Mass; das soziale Gefüge wird wieder tragfähiger, die Generationen rücken zusammen.

Anders als im Mittelalter soll die ideale Agrargesellschaft der Zukunft aber keinesfalls ständisch und feudal organisiert sein. Sondern als Gemeinschaft gleichberechtigter Menschen, die über ihre Geschicke selbst beraten und befinden: als Demokratie also.

An dieser Stelle muss ich endlich bekennen: Es ist – der Leser, die Leserin ahnt es schon längt – eine Utopie, die ich hier entwickle. Die Träumerei eines Rückwärtsgewandten, der an der gegenwärtigen Welt zweifelt und verzweifelt, weniger in Bezug auf ihre materielle denn auf ihre geistige Beschaffenheit. Und der die Lösung nicht in grössenwahnsinnigen technokratischen Zukunftsvisionen, sondern in der bescheidenen Rückkehr zum Bewährten sucht.

Natürlich weiss auch ich die Segnungen der heutigen Zeit zu schätzen, die erstaunlichen, schon fast sensationellen Möglichkeiten von Technik, Elektronik, Informatik, Architektur, Logistik, Medizin und anderem mehr. Ich benutze den Computer, fahre Zug und Auto, besitze ein Handy, verfüge über einen gewissen Wohnkomfort, habe einen gefahrfreien Indoor-Arbeitsplatz und schätze es sehr, die öffentliche und leistungsstarke Infrastruktur für Mobilität, Hygiene und Kommunikation mitbenützen zu dürfen. Zu den Annehmlichkeiten des Lebens, das ich als Angehöriger einer Dienstleistungsnation führe, gehört auch ab und an der Besuch einer gepflegten Gaststätte, eines Kinos oder eines Museums. Reine Agrargesellschaften verfügen über all diese Errungenschaften nur in sehr bescheidenem Mass – wenn überhaupt.

Die eigenen Grenzen

Und nein, ich bin nicht sicher, ob ich wirklich ein tüchtiger Bauer wäre. Ich mag Gartenarbeit und kann anpacken, aber ein Leben in der erdhaften, manchmal rauen und kräftezehrenden Sphäre der Landwirtschaft kann ich mir dennoch kaum vorstellen. «Die Landwirtschaft kennt keinen Sonntag; die Tiere wollen jeden Tag versorgt sein, heuen musst du, wenn das Wetter stimmt, und die Ernte duldet keine Verzögerungen», sagte mir einmal ein Bekannter, und recht hat er.

Hinzu kommt einiges mehr, das mich nachdenklich stimmt, wenn ich mir ein Leben als Landwirt auszumalen versuche: Schlechte Erntejahre wegen Dürre, Hagel, Nässe oder Schädlingsbefall, dazu Sommerarbeit unter sengender Sonne und Winterarbeit in beissender Kälte, die Versorgung der Tiere, der Stallmist, Seuchen, Tod und das blutige Geschehen bei den Geburten von Kälbern, Fohlen und Lämmern. An all das müsste ich mich zuerst gewöhnen, und ich müsste viel lernen, sehr viel. Ich kann nicht einmal ein Huhn schlachten – und denke nicht, dass ich es wirklich können möchte.

Auch weiss ich sehr wohl, dass es auch im bäuerlichen Milieu nicht nur arbeitsam, bodenständig und rechtschaffen zugeht. Der weltkluge, weise, bedachtsame und spirituell gereifte Landmann ist ein Archetypus, wie er in dieser vollkommenen Ausprägung selten anzutreffen ist. Denn wie überall gibt es, nebst vielem Guten, auch in der Bauernschaft Ärger, Zwist, Hader, Streit, Neid und Missgunst. Davon berichten bereits die weltberühmten Bauernromane des Emmentaler Dichterpfarrers Albert Bitzius (1797–1854), der seine Werke unter dem Pseudonym Jeremias Gotthelf publizierte.

So bleibt unter dem Strich nichts weiter übrig als auf der einen Seite das verklärte Ideal einer archaischen bäuerlichen Gesellschaft, in der manches vielleicht ein bisschen besser zu sein scheint, weil ihr das fehlt, was auf dem postmodernen Konsumkarussell alles an Ungutem, Nutzlosem, Schädlichem, Irrwitzigem und Lasterhaftem herumwirbelt – und auf der anderen Seite das Scheinbild einer ruralen Pseudo-Idylle, in der das meiste bei näherer Betrachtung eben doch nicht wirklich besser ist, weil ihr offenkundig auch das fehlt, was der Fortschritt an Gutem, Nützlichem und Schönem bereithält.

Es kommt, wie es kommen muss

Warum ich trotzdem «zurück zur Scholle» rufe? Weil es mittel- bis längerfristig so kommen wird. Nicht weil wir wollen, sondern weil wir müssen. Der Technisierungsgrad unserer Zivilisation hat die energetische Toleranzschwelle bereits überschritten; wir werden uns früher oder später selbst verbrennen, ausbrennen, ausglühen – zu hoch ist unser Bedarf an allem, was sich zu Kraft, Wärme und Elektrizität umwandeln lässt. Um die verbleibenden Ressourcen wird es Kämpfe geben, Krieg, zuletzt jeder gegen jeden, wenn nicht ein rein imperialistisch motivierter Konflikt vorher schon einen globalen Flächenbrand entfacht.

 

Vielleicht aber wird die Transformation, unsere eigene Rückführung in die agrarische Bronzezeit, schleichend und gewaltfrei verlaufen. Der friedliche Weg wäre sicher der bessere. So oder so werden wir aber in gar nicht so ferner Zukunft zum Pflug greifen müssen, wenn wir nicht verhungern wollen. Es wird hart werden, pickelhart – und längst nicht die verklärte bäuerliche Idylle, wie ich sie mir hier ausmale. Im Gegenteil. Aber trotzdem weniger schlecht, als viele glauben. Wir sollten uns schon mal an den Gedanken gewöhnen.

 

© Hans Herrmann

Geschrieben im April 2024