Drachen gehören zur zoologischen Ausstattung jedes Fantasy-Films. Sie bevölkern Sagen, Märchen und Legenden. Sie faszinieren die Menschen seit eh und je. Sie sind wehrhaft, fauchen, speien Feuer und hüten einen Schatz. Gegen Drachen zu kämpfen, ist definitiv kein Job für Weicheier. Was hat es mit diesen urweltlichen Ungeheuern auf sich? Und was hat das schuppige Tier mit der Gründung der Städte Burgdorf und Lenzburg zu tun? Kleine Abhandlung über einen grossen Mythos.
Kaum ein Fabelwesen fasziniert die Menschen seit Generationen so sehr wie der Drache. Im Vergleich zu ihm verblassen sie alle, Einhorn, Nix, Elfe, Troll, Vampir, Werwolf, das Flügelross Pegasus und sogar der groteske Basilisk. Der grosse, schuppige, schlangenähnliche, krallenbewehrte, scharfzahnige, geflügelte und Feuer speiende Drache bleibt König.
Vielleicht ist er das erste mythologische Wesen überhaupt, das irgendwann in grauer Vorzeit der menschlichen Fantasie entsprang. Die gewaltigen fossilen Dinosaurierknochen, auf die unsere Vorfahren bei ihren Streifzügen und Wanderungen hin und wieder gestossen sein mochten, dürften zur geistigen Geburt von Drachen einiges beigetragen haben; eine Rolle spielten wohl auch Wolkenbilder, besondere Landschaftsformationen und wilde Gewässer in Kombination mit Blitz, Donner und anderen Naturgewalten.
Hier der Böse, dort der Gute
In der christlichen Tradition gilt der Drache als Symbol des Satans. Entsprechend werden die zahlreichen Lokalsagen, in denen ein Held das mordende Untier zur Strecke bringt, meist als Geschichten gedeutet, die zeigen, wie das Christentum einst das Heidentum überlagerte respektive «besiegte».
Das fernöstliche Denken jedoch setzt die Drachen nicht mit dem Bösen gleich; in China zum Beispiel verkörpern sie Glück, Güte, Intelligenz und Reichtum. Auch im Abendland scheint es eine – wenn auch verschüttete – Tradition des «guten Drachen» zu geben. Der Landschaftsethnologe Kurt Derungs hat diese Schicht in der Schweiz freigelegt und dokumentiert. Ihm zufolge handelte es sich bei den Drachen ursprünglich um Segen spendende Kräfte, die mit der göttlichen Urmutter in Zusammenhang standen. Im Zuge der Christianisierung wurden diese Kräfte von der Kirche dämonisiert und zu schrecklichen Drachen verformt.
Die Drachenheiligen
Die Überlieferung des Drachenkampfes ist alt und in vielen Kulturen verbreitet. Einer der bekanntesten Drachenbezwinger ist der heilige Georg. Er soll wegen seines christlichen Glaubens um 303 unter dem römischen Kaiser Diokletian hingerichtet worden sein. Der Legende nach rettete Georg eine Jungfrau, die einem Drachen hätte geopfert werden sollen, indem er das Untier tötete. Als er das Land von der Plage befreit hatte, riet er, dass sich die Leute taufen lassen sollten, was dann auch geschah. Auf Bildern wird Georg stets als Reiter in der Montur eines römischen Soldaten dargestellt.
Einen Drachen bezwang auch die heilige Margaretha; sie erlitt praktisch zur selben Zeit den Märtyrertod wie Georg. Die Legende berichtet, dass sie eine schöne christliche Schäferin gewesen sei. Sie wies den Statthalter, der sie begehrte, zurück, worauf dieser sie in den Kerker werfen und foltern liess. In der Nacht erschien ihr der Satan in Drachengestalt und wollte sie verschlingen; es gelang ihr aber, den Bösen mit dem Kreuzeszeichen zu besiegen.
Michael und seine Kämpfer
Der himmlische Drachenbezwinger ist der Erzengel Michael. Sein Drachenkampf wird in der biblischen Offenbarung des Johannes geschildert: «Und es erhob sich ein Streit im Himmel: Michael und seine Engel stritten wider den Drachen. Und der Drache stritt und seine Engel und siegten nicht, auch ward ihre Stätte nicht mehr gefunden im Himmel. Und es ward gestürzt der grosse Drache, die alte Schlange, die da heisst Teufel und Satan, der die ganze Welt verführt. Er ward geworfen auf die Erde, und seine Engel wurden mit ihm dahin geworfen» (Offb 12,7-9).
Der 1933 geborene Brite John Michell vertritt in seinem Buch «Die Geomantie von Atlantis» die Theorie, dass an den Orten, wo heute eine dem heiligen Michael geweihte Kirche steht, in vorchristlicher Zeit einer Gottheit gehuldigt worden sei, die den Drachen nicht getötet, sondern bloss gezähmt habe. In Nachahmung dieser Gottheit hätten die Menschen im Frühling mit Hilfe von Ritualen die Kräfte der Erde in bestimmte Bahnen gelenkt, um Harmonie und Fruchtbarkeit über das Land zu bringen.
Sintram und Bertram
Auch meine Heimatstadt Burgdorf kennt eine Drachenlegende. Sie ist die Gründungssage der Stadt. In einer Höhle in jenem Felsen, auf dem sich heute das Schloss Burgdorf erhebt, hauste einst ein grässlicher Drache, der das Land in Angst und Schrecken versetzte. Die beiden Brüder Sintram und Bertram zogen aus, das Untier zu töten. Als sie den Drachen gefunden hatten, entspann sich ein heftiger Kampf, in dessen Verlauf der Drache den jüngeren der Brüder, Bertram, bei lebendigem Leib verschlang, dann aber seinerseits von Sintram getötet wurde.
Der Sieger schlitzte dem toten Untier den Bauch auf, und Bertram stieg unversehrt wieder ans Tageslicht. Zum Dank an ihren Sieg liessen die beiden Grafen am Ort des Geschehens eine Kapelle bauen und mit dem Drachenkampf ausmalen. Die Kapelle war der heiligen Margaretha, der Drachenbezwingerin, geweiht. Der Lützelflüher Dichterpfarrer Jeremias Gotthelf hat die Sage zur kunstvollen historischen Novelle ausgestaltet; den Drachen lässt er hauptsächlich im Kesselgraben zwischen der dritten und vierten Gysnaufluh sein Unwesen treiben.
Im Schloss Burgdorf, das Herzog Berchtold V. von Zähringen um 1200 erbauen liess, gab es tatsächlich eine Margarethenkapelle. Ob sie mit der Drachenlegende ausgemalt war, wie es die Sage berichtet, ist allerdings ungewiss, denn sie existiert heute nicht mehr. Übrig geblieben ist lediglich der Gewölbeschlussstein, der im Wohnturm des Schlosses besichtigt werden kann, und die Glocke, die zuoberst im Bergfried einen Platz gefunden hat.
Das Männchen auf der Riesenschlange
Die Bezwingung des Drachen durch Sintram und Bertram wird so gedeutet, dass es den Brüdern gelungen sei, mit dem Bau eines Dammes den wilden Fluss Emme zu zähmen und so das Land vor weiteren Überschwemmungen zu bewahren. Diese Deutung wird von einer alten Überlieferung gestützt, wonach es sich bei der Emme um eine riesige Schlange handle, die bei Hochwasser wild zu Tal fahre und von einem grünen Männchen – einer alten Gottheit? – geritten und gelenkt werde.
Gotthelf bezeichnet Sintram und Bertram als Grafen von Lenzburg; die Burgdorfer Gründungssage ist tatsächlich identisch mit jener der Stadt Lenzburg. In der aargauischen Version heissen die Brüder allerdings Waltram und Guntram. Hier ist es Waltram, der verschlungen wird und später wieder aus dem Drachenleib steigt, und Guntram, der das Untier tötet.
Zum Lohn erhoben die Bauern die heldenhaften Befreier des Landstrichs zu Grafen von Lenzburg und erlaubten ihnen, auf dem Drachenfelsen eine Burg – eben die Lenzburg – zu bauen. Noch heute erinnert auf dem Nordgiebel der zur Burg gehörenden Landvogtei ein bemalter, zum Teil vergoldeter Drache an die heroische Tat. 1594 taucht die Skulptur erstmals in den Akten auf; sie wurde damals erneuert und musste auch später immer wieder ersetzt werden.
Siegfried und der Drachenschatz
Der vermutlich berühmteste Drachentöter ist Siegfried aus dem Nibelungenlied. Diese germanische Heldensaga, die von Geschehnissen aus der Völkerwanderungszeit berichtet, erhielt ihre endgültige Form im Hochmittelalter, setzt sich aber aus verschiedenen Überlieferungen zusammen, die deutlich älter sind.
Eine dieser alten Geschichten ist das Lied von Siegfried, dem Drachentöter. Der bei einem Schmied aufgewachsene junge Mann zieht aus, den Drachen Fafnir zu töten. Er stellt und tötet die Bestie. Um sich unverwundbar zu machen, badet er im Drachenblut. Dummerweise fällt aber ein Blatt auf eine Stelle an seinem Rücken; hier benetzt das Drachenblut die Haut nicht, und der Held bleibt an dieser Stelle verletzbar. Das wird ihm später, nach vielen Abenteuern, eines Tages zum tödlichen Verhängnis.
War der Drache Fafnir aber wirklich der grässliche Unhold, als den ihn die Sage schildert? Zweifel sind erlaubt. Vielleicht steckt auch hinter dem Lindwurm des Nibelungenlieds eine Naturkraft, die ursprünglich nicht schlecht, sondern Segen spendend war.
Der Schlüssel zu dieser Sichtweise liegt im Goldschatz, der Fafnir in seiner Höhle hütet. Dieser Schatz war womöglich keine Anhäufung von Kelchen, Schmuckstücken und Münzen aus Edelmetall, sondern ein matriarchaler Geistesschatz, der seine spirituelle Bedeutung erst verlor, als sein Hüter unter den Schwerthieben eines patriarchalen Haudegens fiel.
© Hans Herrmann
Geschrieben im Jahr 2007, überarbeitet im April 2022