Kraftorte in Burgdorf

Einleitung

Der Wallfahrtsort Mariastein, das Kloster Einsiedeln, die Emma-Kunz-Grotte in Würenlos, die Eremitage in Arlesheim oder das Würzbrunnenkirchlein im emmentalischen Röthenbach gelten bei vielen spirituell veranlagten Menschen als Orte der Kraft, von denen eine geheimnisvolle, sich wissenschaftlichen Messmethoden entziehende, trotzdem aber deutlich spür- und erfahrbare Energie ausgeht.

 

In Burgdorf, der organisch in die Landschaft eingebetteten Kleinstadt an der Emme, gibt es gleich mehrere solcher Schwingungszentren. An Bekanntheit können sie sich mit den grossen und viel besuchten Kraftorten der Schweiz nicht messen, und offiziellen Status als «Kraftort» geniesst keiner dieser Plätze. Ihre Ausstrahlung ist intimer und persönlicher Natur – und dennoch so beschaffen, dass sie von vielen Leuten auf ähnliche Art wahrgenommen wird. Im Folgenden soll versucht werden, sich einigen Burgdorfer Kraftorten beschreibend, charakterisierend und einordnend zu nähern.

Kraftort Schlosskapelle: Geheimnis

Die Johanneskapelle auf Schloss Burgdorf ist mit hochmittelalterlichen Wandmalereien verziert. Die auf die weiss verputzte Mauer angebrachten Bilder sind im Lauf der Jahrhunderte zwar verblasst und an manchen Stellen kaum mehr sichtbar, aber der präzise Strich, die bewegte Komposition und die harmonische Farbgebung erfreuen Auge und Gemüt nach wie vor.

 

An der West- und Nordwand ist die Passion Christi dargestellt, an der Nordwand das Martyrium Johanni des Täufers, und die Ostwand wird beherrscht von einem Rundfenster, das mit einer schlichten und wirkungsvollen Verglasung aus dem Jahr 1887 versehen ist.

 

Wer den Raum betritt, wird sogleich von einer starken Atmosphäre der Sammlung und Andacht umfangen, der man sich kaum entziehen kann. Unweigerlich kehrt sich der Blick vom runden Sonnenfenster und den Wandmalereien ins eigene Innere und dringt geistig betrachtend in Tiefen vor, wo ein nicht in Worte zu fassendes, allein mit dem Gefühl zu erahnendes Geheimnis wohnt – das Mysterium des Ursprungs, des Unfassbaren, des Göttlichen.

 

Zwei Helden

Sicher tragen das ehrwürdige Alter der Lokalität, die stimmungsvollen Heiligenbilder und die weihevolle Stille zur besonderen Ausstrahlung der Kapelle bei. Aber vielleicht, wer weiss, wird die Magie dieses Ortes verstärkt von einer geheimnisvollen Erdkraft, die von den Fundamenten her in den geweihten Raum aufsteigt. Im Sandsteinfelsen, worauf die Burganlage gebaut ist, befindet sich nämlich das sogenannte Drachenloch, jene – heute zugemauerte – Höhle, in der einst ein Drache gehaust haben soll.

 

Sintram und Bertram, die sagenhaften Gründer der Stadt, bezwangen das urtümliche Wesen in heldenhaftem Kampf, aber die Kraft des Drachen scheint sich als tellurisches Kraftfeld noch heute bemerkbar zu machen…

Kraftort Staldenrondell: Ruhe

Wo sich die gepflasterte Strasse in einer kühnen Windung von der historischen Burgdorfer Unterstadt via Staldenbrücke in die obere Altstadt schraubt, befindet sich inmitten der Strassenschleife eine kleine, mit fünf Linden bestandene und drei Sitzbänken ausgestattete Insel. Der runde Platz ist mit feinem Kies bestreut, der Umschwung mit Gras bewachsen.

 

Wer sich auf einen der Bänke im Staldenkehr setzt, das Rauschen der Linden auf sich einwirken lässt und den Blick in das kräftige Grün des nahen Kirchrains versenkt, erfährt bald einmal ein Gefühl der tiefen Entspannung und schwebenden Sorglosigkeit – trotz des Verkehrs, der um das Rondell herum zirkuliert. Hier zu sitzen, ist ein wirkungsvolles Mittel gegen die Hektik des Alltags.

 

Wo einst das Kloster stand

Dass diese kleine Oase eine derart intensive, fast hypnotische Ruhe verströmt, ist weiter kein Wunder. Ein paar Schritte vom Rondell entfernt stand einst das 1280 vom Grafengeschlecht der Kyburger gegründete Barfüsserkloster. Vielleicht befand sich exakt auf dem heutigen Staldenrondell der ehemalige Klostergarten als Hort der Stille und Erholung, vielleicht hat das kontemplative Leben der Mönche die Umgebung mit Beschaulichkeit imprägniert.

 

1823 wurde das Konventsgebäude abgerissen, fünf Jahre später der Staldenkehr erbaut, aber etwas von der alten sakralen Ruhe lebt an diesem Ort beharrlich weiter.

Kraftort Gysnauflühe: Ganzheit

Schloss und Kirche sind die baulichen, die vier Gysnauflühe am östlichen Stadtrand jedoch die natürlichen Wahrzeichen von Burgdorf. Steil und schroff, wie mit einer riesigen Schaufel aus dem bewaldeten Hügelzug herausgestochen, erheben sich die vier Sandsteinfelsen am rechten Emmeufer in die Höhe. Die Bevölkerung nummeriert die Flühe gegen die Fliessrichtung der Emme; somit befindet sich die erste Fluh bei der Wynigenbrücke, die vierte Fluh in der Waldegg.

 

Die erste, zweite und dritte Fluh bilden eine optische Dreiheit. Diese markante Formation dürfte den Menschen schon in frühester Zeit aufgefallen sein. Erblickten die Kelten und später die Alemannen in den drei Flühen eine vorchristliche Götter- oder Göttinnentrias?

 

Spazierweg mit Besonderheiten

Solche Überlegungen bleiben blosse Spekulation, denn schriftliche Zeugnisse aus diesen frühen Zeiten fehlen völlig. Und doch ist der Gedanke, dass es sich bei den Gysnauflühen einst um eine kultische Stätte gehandelt haben könnte, so abwegig nicht, denn der beliebte Spazierweg durch den Buchenwald in der oberen und den Auenwald in der unteren Fluhregion ist gesäumt von Besonderheiten, die diesen Schluss durchaus zulassen.

 

Zu nennen sind die dem heiligen Bartholomäus und den drei Nothelferinnen geweihte Kapelle auf der Wiese bei der ersten Fluh und die geheimnisvolle Erdburg auf dem Gipfel derselben Fluh, weiter das glasklare Rehbrünnchen zwischen dritter und vierter Fluh, eine kleine Eremitenhöhle in der dritten und ein weiteres «Bättlerchucheli» in der vierten Fluh, ein doppelt mannshoher, auffallend geformter und mit einer Rutschrinne versehener Stein bei der Wynigenbrücke und schliesslich ein ganzer Sagenkreis, der sich um die Gysnauflühe rankt.

 

Gegensätze vereinen sich

Angesichts all dieser bedeutungsvollen Wegmarken wird klar: Der Gang über die Flühe hat eine spirituelle Dimension. Hier gibt es ein dunkles, von den kühlen Fluten der Emme umspültes Unten, ein helles, von beschwingtem Buchenwald gekröntes Oben, Orte der inneren Einkehr und alte Geschichten von symbolischer Kraft. Das Unbewusste paart sich mit dem Bewussten, das Triebhafte mit dem Beherrschten, das Schattige mit dem Sonnigen – wer über die Flühe spaziert, ist ein Wallfahrer auf dem Weg zur Ganzheit.

Kraftort Lochbach: Natur

Der Lochbach liegt nahe bei Oberburg am rechten Emmeufer, gehört politisch aber zum nördlich gelegenen Burgdorf. 1671 erhielt ein gewisser Johann Dysli von der Burgdorfer Obrigkeit die Erlaubnis, im Lochbach ein Bad zu betreiben. Nach mehreren Umbauten präsentiert sich das Lochbachbad heute als fast landschlossähnliche Anlage mit Torbau und Turm; der Komplex umgibt hufeisenförmig einen gemütlichen Innenhof mit Kastanienbäumen und einem romantisch bemoosten Springbrunnen.

 

An der hofseitigen Front des Turmes hängt, vor Witterung durch ein kleines Vordach geschützt, die kunstvoll geschnitzte, rund 350-jährige Figur eines lächelnden Mannes, aus dessen Kopf übergross ein Geweih spriesst. Man nennt diese Figur den Lochbachgränni. Der Name deutet auf Grannus, den keltischen Gott der Heilquellen, die Erscheinung jedoch unmissverständlich auf Cernunnos, den keltischen Vegetationsgott mit dem Hirschgeweih.

 

Es spriesst und schlingt

Der Lochbach ist wahrhaftig ein Ort der Vegetation. Hier wuchert, schlingt und rankt der Auenwald besonders üppig; im Sommer, wenn er belaubt ist, wenn die Mücken schwirren und die grünen Tümpel geheimnisvoll schimmern, könnte man sich fast im tropischen Regenwald wähnen. Wer hier unter einem Baum sitzt, hört den Herzschlag der Natur, wird eins mit ihr und lädt sich auf mit grüner Kraft.

Kraftort Schönenbühli: Übergang

Am südwestlichen Rand von Burgdorf erhebt sich im Grünen eine sanfte, mit alten Park- und Wildbäumen malerisch bewachsene Anhöhe, das Schönenbühli. Das Zentrum des Wäldchens bildet eine künstlich aufgeschüttete Plattform, worauf man 1825, als die Promenade entstand, einen Pavillon errichtete. An seiner Stelle steht heute eine von Sitzbänken umgebene Linde.

 

Der Stein bei der Eiche

Die Örtlichkeit mit ihrem schönen Bestand an Föhren, Buchen, Robinien und Eichen hat eine intime Ausstrahlung, in der sich Heiterkeit und Melancholie seltsam mischen. Diese Ambivalenz rührt daher, dass das Schönenbühli ein Ort des Übergangs ist.

 

Wenige Schritte vom Sitzplatz entfernt ragt nahe einer knorrigen Eiche ein kniehoher Burgernzielstein auf, der in alten Zeiten die Stadtgrenze und damit den Übergang von der sicheren Siedlungszone in die gefahrvolle Sphäre der Landstrasse markierte. Zudem befand sich hundert Meter weiter westlich auf freiem Feld einst die Richtstätte. Somit zieht das Schönenbühli, das auch den düsteren Namen Galgenbühl trägt, eine unsichtbare, jedoch gut fühlbare Linie zwischen Gemeinschaft und Einsamkeit, zwischen Leben und Tod.

 

Im ersten Moment mag einen die Stimmung dieses Ortes nicht so recht beglücken. Je länger man sich hier aber aufhält, desto mehr wandelt sich die zwiespältige Atmosphäre des Übergangs zu einem Gefühl der Gelassenheit und Harmonie.

 

© Hans Herrmann

Dies ist die leicht gekürzte Fassung eines Beitrags, den ich für das Buch «Burgdorf, Nabel der Welt mit stolzer Geschichte» verfasste (2009, Hrsg. Daniel Gaberell)