Der Zorn der Gerechten

Zu sagen, was man denkt, kann heute gefährlich sein. Deshalb sagt man meist nur noch das, was jene, die den Ton angeben, hören wollen. Das ist zwar verlogen – dafür bleibt man aber von der zermalmenden Kraft moralischer Attacken verschont.

 

Was hat es mit dieser Dominanz einer hochempfindlichen Moral auf sich? Dieser Aufsatz spürt einem Phänomen nach, das nicht bloss eine Laune des Zeitgeists ist. Die Hypermoral schreibt Geschichte, baut sie doch gerade die Gesellschaft um.

Wir stehen an einem historischen Wendepunkt. Es mag pathetisch klingen, aber das macht es nicht weniger wahr: Die Demokratie ist in Gefahr. Die Demokratie, die freiheitliche Staatsform, die den Westen seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs flächendeckend prägt. Die Gefahr kommt nicht von aussen, wie man derzeit zuweilen behauptet. Sie kommt von innen.

 

Im Jahr 1815 wurde der französische Kaiser Napoleon Bonaparte von England und Preussen geschlagen und in Europa die alte aristokratische Ordnung wiederhergestellt. Ab 1830, zum Teil auch etwas früher, regten sich progressive Gegenkräfte, die dem liberalen Gedankengut der Französischen Revolution neue Geltung verschaffen wollten: Ein freies und souveränes Bürgertum sollte fortan anstelle der Aristokratie politisch das Sagen haben, auf parlamentarischer, sprich demokratischer Basis.

 

In der Schweiz führte diese Bewegung 1848 zur Gründung des demokratisch verfassten Bundesstaats, in anderen Staaten dauerte es länger, und in den USA war die Demokratie bereits seit gut 60 Jahren etabliert. Heute ist der gesamte Westen ein Synonym für Demokratie, Teilhabe, Rechtsstaatlichkeit und individuelle Freiheit.

 

Hart erkämpftes Recht

Kern der Demokratie ist der Abgleich von Ansichten und Absichten. Dazu braucht es Meinungsfreiheit. Die Errungenschaft der freien Meinungsäusserung ist nicht selbstverständlich – sie ist das Ergebnis eines zähen Ringens fortschrittlicher Pioniere gegen das aristokratische Establishment, das unliebsame Haltungen und Meinungen verbot, zensurierte und ahndete. Das liberale Bürgertum siegte, die Gedanken wurden frei und durften fortan ohne Angst und Bedenken geäussert werden.

 

Heute dürfen viele Gedanken, Ansichten, Haltungen und Meinungen nicht mehr ohne Angst und Bedenken geäussert werden. Seit einigen Jahren pflegen progressive Kräfte einen kruden Moralismus, der vorschreibt, was man denken, sagen und schreiben darf und was nicht. Dieser Moralismus wirkt ansteckend. Er umhüllt all die Menschen, die sich in der heutigen komplexen Welt nicht mehr zurechtfinden, wie einen Schutzmantel. Dieser Mantel soll sie vor den Zumutungen des Lebens schützen – Zumutungen, die zuweilen auch nur in Form anderer Meinungen und Befindlichkeiten auftreten.

 

Ehrlich sein ist gefährlich

Wer mit seinen Äusserungen gegen den moralischen Mainstream verstösst, lebt heute nicht nur unbequem, sondern brandgefährlich: Es kann mit beruflichem Ausschluss und gesellschaftlicher Ächtung enden. Und dies nicht nur bei Ansichten, die, objektiv betrachtet, tatsächlich verwerflich sind, sondern auch bei solchen, die nichts weiter als ein bisschen konservativ sind.

 

«Aber wir haben doch gar keinen Mainstream, der irgendwelche Ansichten vorschreibt! Was faselst du da. Du darfst dich doch jederzeit frei äussern.» So tönt es, wenn ich das Thema anspreche. Es tönt oft so giftig, dass ich jeweils sofort merke: Aufgepasst! Hier hast du es offenbar mit Jüngern ebendieses Mainstreams zu tun.

 

Dagegen kommt einer allein nicht an. Aber es ändert nichts daran: Es gibt ihn, diesen Mainstream, diese Gleichschaltung der Gesinnungen zu einer Pseudoreligion der Tugendhaften. Zu einer Ideologie, die man nicht antasten darf, nicht einmal anhauchen, sonst stellen einen die Gralshüter der noblen Gesinnung an den Pranger. Wenn sie einem nicht gleich den Schädel einschlagen. Auch das gehört mitunter zu ihren Methoden.

 

Klein, aber sehr laut

Dieser Gesinnungskult kommt aus dem linksliberalen Justemilieu. Er ist die weltfremde und moralgetränkte Ideologie einer eher kleinen, jungen, aber sehr lauten und sehr prägenden Gruppe, die ganz genau weiss, wer auf der guten und wer auf der schlechten Seite steht. Sie auf der guten, alle anderen auf der schlechten. Selbstverständlich und ohne Ausnahme.

 

So erlebe ich das als Endfünfziger zum ersten Mal. Ich bin in einer Zeit sozialisiert worden, als links und rechts zwei politische Haltungen waren, die sich zwar bekämpften, gleichzeitig aber respektierten. Die sich nichts schenkten, die hart, aber fair und auf Augenhöhe mit Argumenten fochten, auf dass das bessere Argument obsiege. Danach ging man zusammen ein Bier trinken.

 

Heute sind wir davon weit entfernt. Heute gewinnt nicht mehr das Argument, sondern die Moral. Eine radikale Moral. Eine linkshändig geschwungene Keulenmoral beziehungsweise Moralkeule. Unterdessen wirkt diese Waffe so durchschlagend, dass Andersdenkende – zum Teil sogar aus dem linken Spektrum selbst – den Kopf einziehen und sich hinter vorgehaltener Hand scheu zuraunen: «Ich bin zwar anderer Meinung, aber das darf man ja heute nicht mehr sagen.»

 

Wo die gute Gesinnung zu Hause ist, zeigt sich besonders eindrücklich im Klang, den die politischen Begriffe links und rechts unterdessen haben. Wer von sich sagt, er sei «links», kann es sich wie einen Orden an die Brust heften. Es klingt nach gesellschaftlichem Fortschritt, Sensibilität, Solidarität, Fürsorge, Kulturfreundlichkeit, guter Welt. Wer dagegen naiv genug ist, von sich öffentlich zu sagen, er sei «rechts», muss sich warm anziehen. Ein Rechter! Welch böses, abscheuliches Wort! Das hat im besseren Fall den Geruch von rückständig und ewiggestrig, im schlimmeren Fall von Rechtsextremismus und Nazi.

 

Kaltgestellt und verbannt

Wie Leute, die eine nichtkonforme Meinung äussern, systematisch und mit geballter Kraft ins Abseits gestellt und isoliert werden, zeigt das Beispiel des Schweizer Politsatirikers Andreas Thiel. Im Dezember 2014 erklärte er an der Fernsehsendung «Schawinski», dass der Islam seiner Meinung nach im Kern eine kriegerische Religion und schwer zu reformieren sei. Zu diesem Schluss komme er, nachdem er den Koran gelesen habe.

 

Diese Meinungsäusserung sollte ihm aber schlecht bekommen: Im Nachgang seines TV-Auftritts wurde er zum Opfer einer moralischen Säuberungsaktion. Das linksliberale Kulturestablishment boykottierte ihn, er bekam keine Auftritte mehr und musste seine Bühnentätigkeit dauerhaft einstellen.

 

Dass ausgerechnet Kreise so vorgehen, in denen es eigentlich Standard ist, Religion als Ursache aller Kriege dieser Welt zu brandmarken, ist bemerkenswert. Konsequenterweise hätte man Thiel für seine religionskritischen Äusserungen applaudieren müssen. Stattdessen sprang man in diesem speziellen Fall für einmal gerne über seinen eigenen Schatten. Absichtlich missdeutete man Thiels Feststellungen als fremdenfeindlich und nahm sie zum Anlass, einen längst Beargwöhnten endlich mundtot zu machen.

 

Man braucht Thiel nicht zu mögen, und seine Analyse steht auf wackligen Füssen. Er sollte seine Ansichten aber zumindest äussern dürfen, ohne gleich von einem hypermoralischen Tornado für immer und ewig zermalmt zu werden.

 

Das Schicksal der kulturpolitischen Ächtung widerfuhr auch dem Schweizer Komiker Marco Rima. Er hatte sich während der Corona-Pandemie als Kritiker des gesellschaftlichen und politischen Umgangs mit dieser Krankheit positioniert, fand die Massnahmen übertrieben und sorgte sich um die Freiheitsrechte. Daraufhin wurde er von einer grossen Tageszeitung als «König der Verschwörungstheoretiker» bezeichnet – obwohl sich in seiner Kritik weder besonders Irrationales noch wirklich Abstruses erkennen liess. Manche seiner Äusserungen waren allenfalls unvorsichtig, mehr nicht.

 

Ob man nun ein «Verschwörungstheoretiker» ist oder nicht: In diesen Zeiten ist es zu einem bewährten Mittel geworden, unliebsame Kritiker so zu benennen und lächerlich zu machen. Es ist nicht sehr wahrscheinlich, dass Rima jetzt, nach dem sich abzeichnenden Ende der Pandemie, auch wieder anderswo wird auftreten können als in einem Videoformat der Zeitschrift «Nebelspalter».

 

Studenten ausser Rand und Band

Thiel und Rima mögen nicht unbedingt repräsentativ sein. Weitere Namen lassen sich aber schnell finden. Da ist zum Beispiel die konservative Journalistin Bari Weiss, die in der linksliberalen New York Times als weltanschauliche Gegenstimme auftreten sollte, dies auftragsgemäss auch tat und deshalb von ihren Kollegen weggemobbt wurde.

 

Und da ist die britische Philosophin Kathleen Stock, die die Gender-Ideologie nicht mitträgt und tapfer daran festhält, dass es zwei biologische Geschlechter gibt. Für diese offensichtlich richtige und naturwissenschaftlich bestens abgestützte Aussage machte sie sich in der Studentenschaft erbitterte Feinde, so dass sie schliesslich ihre Anstellung in Sussex aufgab. Das geistige Klima an manchen Bildungsstätten, aus denen die künftige Elite hervorgeht, ist in einem bedenklichen Zustand.

 

Woher aber stammt diese Hypermoral, und weshalb ist sie links zu verorten? Bauern, Handwerker, Kleinunternehmer und Industrielle bildeten in der Schweiz rund anderthalb Jahrhunderte den Kern des klassischen, heute als «rechts» bezeichneten Bürgertums und prägten mit ihrem toleranten Pragmatismus etliche Generationen. Gegenwärtig ist eine Akademisierung der Gesellschaft im Gang; gymnasiale Bildung und hochschulische Ausbildung sind schon fast Standard. Gleichzeitig wird die Welt globaler und somit grösser, komplexer, unübersichtlicher, letztlich für das Individuum zum feindlichen Terrain.

 

Das Bürgertum, das seine gesellschaftliche Gestaltungskraft verloren hat, reagiert auf die sich verändernde Welt mit konservativen Werten: Familie, Nation, Kirche. Die junge akademische Schicht dagegen, die heute den Ton angibt und sich auf der linken Seite des Spektrums positioniert, sucht Schutz hinter einem Moralismus, der die Rolle einer säkularen Religion einnimmt. Dieser Kult des Moralischen wird mit einer individualistischen Hypersensibilität angereichert und mit aggressiven missionarischen Methoden verbreitet. «Woke» nennt man diese Kultur, «wach» und somit im Besitz eines höheren Bewusstseins jenseits der Fakten und Argumente.

 

Virtuosen der Kommunikation

Die Woken betrachten alles durch die Brille der staatlichen Lenkung und der staatlichen Wohlfahrt. Sie leisten es sich gerne, mit vollen Händen Geld auszugeben, das ihnen gar nicht gehört. Sie huldigen den Idealen von kompromissloser Umverteilung, weltweit offenen Grenzen, militantem Genderismus, gehässigem Atheismus und absolut gesetztem Egalitarismus.

 

Sie propagieren diese Haltung als modern, aufgeschlossen und urban; zugleich disqualifizieren sie jede andere Weltsicht, vor allem aber die bewahrende, als rückständig, verschroben und moralisch minderwertig.

 

Diese mittelständische und immer grösser werdende Bildungsschicht versteht sich hervorragend auszudrücken. Ihre Zugehörigen beherrschen das Wort und wissen, wie man die Klaviatur der Moral bedient, wie man sich die – neuerdings für Gesinnungsjournalismus durchaus anfälligen – Medien nutzbar macht und die Dogmen eines gesellschaftlichen Umbaus nach neulinkem Gusto in den Köpfen der breiten Bevölkerung verankert. Es sind Intellektuelle, die Andersdenkenden gerne vorwerfen, sie gebrauchten «Kampfbegriffe»: Mit diesem selbst zum Kampfbegriff gewordenen Wort versuchen sie, ohne weitere Argumente die Argumente der Gegenseite zu disqualifizieren. Sie verstehen sich als Hüter des Gemeinsinns, sind in Wahrheit aber ausgeprägte Individualisten.

 

Vom Mitbürger zum Feind

Die kulturelle Hegemonie der Woken ist offenkundig, und wer nicht mit ihnen ruft, ist gegen sie. Autofahrer, Verweigerer des Gendersternchens, Fleischesser, Schützen, Jäger, Berufsoffiziere, Patrioten, Väter und Mütter mit traditionellem Rollenbild, Gläubige, Migrationskritiker, Abtreibungsgegnerinnen, Befürworter des gesunden Menschenverstands, Bauern, Handwerker, Industrielle und «böse weisse Männer» sind nicht mehr ihre Mitbürger, sie sind ihre Feinde.

 

Mit Feinden spricht man bekanntlich nicht, man hört sie nicht an, man stellt sie stattdessen in die Schandecke. Weil sie Ansichten vertreten und Dinge tun, die den eigenen Ansichten zuwiderlaufen.

 

Was mich an der Moral der «Erwachten» besonders stört: Sie ist billig zu haben. Man braucht sich nur öffentlich mit den richtigen Anliegen und Minderheiten zu «solidarisieren», dann ist man dabei. Ein paar Fähnchen schwenken vielleicht noch und gelegentlich ein «Statement» abgeben in Form eines zeitgeistigen, auf Social Media geposteten Symbols. Mehr braucht es nicht.

 

Auch die anderen können Moral

Ich kenne Menschen mit einer glaubwürdigeren Moral – Menschen notabene, die traditionelle Werte leben und deshalb aus woker Sicht eigentlich «böse» sein müssten. Ihre Moral nährt sich einerseits aus dem Christentum, andererseits aus einem aufgeklärten Humanismus, dazu aus lebendigem Gemeinsinn. Erwähnt sei das Beispiel einer älteren Frau aus dem Emmental, die ich persönlich kenne. Sie respektierte ihre Mutter, aber sie liebte sie nicht, denn diese hatte ihr als Kind keine Wärme geschenkt.

 

Als die Mutter alt und gebrechlich wurde, gab die Tochter ihren Beruf auf, zog zur ungeliebten Mutter und pflegte sie. Jahrelang, unter immer schwereren Umständen, aufopfernd und bis zur Selbstaufgabe. Die Mutter starb mit 92 Jahren, und in der Zwischenzeit war die Tochter selber zur älteren Frau geworden. Einen guten Teil ihrer mittleren Lebensjahre hatte sie ganz ihrer Mutter gegeben, angetrieben von einer Moral, die einen hohen Preis fordert – nämlich alles, was ein Mensch an Zeit, Kraft, Geduld und Durchhaltevermögen zu bieten hat. Dagegen wirken die medienwirksam inszenierten Ansprachen von moralisch erweckten Popstars, Schauspielern und Aktivist*innen einfach nur – billig.

 

Die Linie hat sich verschoben

Zum Schluss möchte ich festhalten, dass ich kein konservativer Hardliner bin. Was nach der Lektüre dieses Aufsatzes vermutlich viele Leserinnen und Leser überrascht. Und doch ist es so. Mir ist fantasielose und verbiesterte Linientreue zuwider. Je nach Thema habe ich mich auch schon mit linken Anliegen identifiziert.

 

In der Grundstimmung bin ich seit einigen Jahren aber eher bürgerlich und konservativ. Nicht, weil ich als ehemaliger Mann der Mitte aktiv nach rechts gerutscht wäre. Sondern, weil die Welt um mich herum auf irrationale und unduldsame Art immer linker und woker wird. Vielen Progressiven und Liberalen meiner Generation ergeht es ähnlich; heute finden sie sich auf der konservativen Seite des Spektrums wieder.

 

Es braucht sich vor uns aber niemand zu fürchten. Ich behaupte: Konservative, also «bewahrende» Ansichten sind nicht mehr zukunftsfähig. Sie sind bloss noch eine Reaktion auf die lebensfremden Entwürfe einer neuen Bildungsschicht.

 

Ich möchte mir diese Reaktion aber nicht nehmen lassen. Ich möchte die Deutungshoheit über unsere Gesellschaft nicht widerspruchslos einem moralisch überhitzten und herrschaftlich auftretenden Neosozialismus überlassen. Auf der anderen Seite aber auch nicht einem ausbeuterischen und herzlosen Neoliberalismus, der vor allem an den technologischen Fortschritt im Dienst eines grenzenlosen Profits glaubt. Deshalb widerspreche ich. Im Namen der Meinungsvielfalt und Meinungsfreiheit. Diskutieren wir es wieder aus, wie wir es früher taten – und gehen wir nachher ein Bier trinken.

 

© Hans Herrmann

Geschrieben im Februar 2022