Sommer, wie er früher einmal war

Vor zwei Jahren wütete in Zentralafrika das Killervirus Ebola, und in Europa interessierte das nur am Rand. War ja auch weit weg. Zum Glück, denn Ebola hat eine Letalität von 40 bis 60 Prozent. Somit ist dieser Erreger sehr, sehr aggressiv. Den würde in Europa niemand haben wollen. Ich übrigens auch nicht.

 

Jetzt haben auch wir unsere Seuche: Covid-19, verursacht durch ein neuartiges Coronavirus. Letalität: gemäss Schätzungen zwischen 1 und 2 Prozent. Gegen Ebola also ein Klacks. Und doch hat uns dieser Erreger in den Zustand eines kollektiven Pandemieschocks geführt. Denn dieses zugegebenermassen hochgradig ansteckende Ding war nun plötzlich mitten unter uns, es konnte jeden treffen. Und auch töten, allerdings mit viel kleinerer Wahrscheinlichkeit als Ebola oder Tollwut.

 

Hat nun der Bundesrat mit dem historischen Lockdown, dem Herunterfahren des öffentlichen, sozialen und wirtschaftlichen Lebens, völlig übertrieben? Ich denke nicht. Ich finde im Gegenteil, er hat seine Sache ausgezeichnet gemacht. So viel als nötig, so wenig als möglich. Kein Hausarrest wie in Italien, keine Maskenpflicht wie in Deutschland, kein Militär auf der Strasse wie in Südafrika.

 

Es hat gewirkt – die Seuche klingt ab, die ganz grosse Welle ist ausgeblieben, das Gesundheitssystem ist nicht zusammengebrochen. Deshalb wird jetzt das Leben in kleinen, behördlich kontrollierten Schritten auch wieder hochgefahren. Besonnen, geplant und unaufgeregt. Ich finde das mutig und grossartig.

 

Weniger grossartig finde ich das seltsame Phänomen, das mir in den elektronischen Kommentarspalten grosser Zeitungen auffällt. Leserinnen und Leser, die in ihren Wortmeldungen zu hoffen wagen, dass die Krankheit sich und uns vielleicht eine ansteckungsfreie Sommerpause gönnt, in der wir wieder mal ein bisschen normal leben dürfen, werden mit «Daumen runter» niedergeknüppelt. Solche Hoffnungen auch nur andeutungsweise in die Welt zu hauchen – obwohl sogar Epidemiologen eine Sommerpause für möglich halten –, gehört sich offenbar nicht. Ist unstatthaft. Zersetzend. Böse.

 

Was steckt dahinter? Zum einen Angst. Das ist verständlich und legitim. Es könnte ja sein, dass die Krankheit in einer zweiten Welle zurückkehrt. Jetzt schon oder erst im Winter. Bereits bauen die Medien beeindruckende Warn- und Drohkulissen auf, mit prognostizierten Ansteckungskurven, die so steil und rot aufragen, dass einem das Blut in den Adern gerinnt.

 

Vielleicht erfolgen diese Mahnungen zu Recht, vielleicht zu Unrecht. Von den allbekannten grippalen Infekten und der saisonalen Influenza wissen wir immerhin: Sie grassieren vor allem im Winter, und wir haben gelernt, damit zu leben. Von Covid-19 wissen wir’s leider noch nicht.

 

Deshalb bleibt Vorsicht angebracht. Sollte sich aber herausstellen, dass bis Anfang Juni kaum mehr neue Fälle auftreten, dürfen wir dann… wie vom Bundesrat in Aussicht gestellt… Dürfen wir dann wieder mit unseren betagten Eltern Kaffee trinken? Mit ein paar Freunden etwas näher zusammenstehen als auf zwei Meter Distanz? Beliebte Spaziermeilen frequentieren? In öffentlichen Parkanlagen liegen? Das Schwimmbad aufsuchen? Ins Kino gehen? In einer Gruppe, die grösser ist als fünf Personen, eine Wanderung unternehmen?

 

Hoppla, jetzt hagelt es schon wieder «Daumen runter». Mit solchen Fragen stosse ich offenbar zu weit vor. Was ist auch los mit euch?

 

Ich glaube, ich weiss, was los ist. Es ist die moralische Instanz der Null-Risiko-Gesellschaft, die sich hier regt. Man ruft mir zu: «Du wagst es mit deinen unverantwortlichen Träumereien, der Volksgesundheit zu schaden. Schäm dich!» Und Daumen runter.

 

In solchen Momenten bin ich versucht, den Kopf einzuziehen und mich tatsächlich zu schämen. Und meine Meinung für mich zu behalten, wie so oft in heutigen Zeiten. Diesmal aber drängt es mich doch zu sagen: Ja, ich bin bis zu einem gewissen Grad bereit, gewisse Risiken einzugehen und mitzutragen. Das bin ich immer und war es schon immer. Wie gesagt bis zu einem gewissen Grad.

 

Ihr nicht? Doch, ihr auch.

 

Wir alle nehmen jederzeit in irgendeiner Form in Kauf, dass andere unter Umständen einen Nachteil oder einen Schaden erleiden. Indem wir uns pflichtbewusst auch dann zur Arbeit schleppen, wenn wir nicht nur erkältet sind, sondern mutmasslich eine echte Grippe haben. Der Chef sagt uns für unsere aufopferungsvolle Einsatzbereitschaft zwar nicht danke. Dafür die Kollegin, die 14 Tage später an einer Lungenentzündung erkrankt… Wir riskieren Verkehrsunfälle, indem wir ins Auto steigen. Wir riskieren den Tod hungernder Menschen, indem wir die Augen verschliessen. Wir riskieren längerfristig sogar den Tod der Welt, indem wir die menschgemachte und höchst alarmierende Klimaerwärmung trotzig verleugnen.

 

Diese Liste lässt sich beliebig fortsetzen. Wen kümmert’s? Keinen. Und doch fordert man null Risiko, besonders dann, wenn man damit moralisch brillieren kann.

 

Ich weiss, ich weiss. Man soll nicht das eine mit dem anderen vergleichen, man soll nicht Corona herunterspielen undsoweiter. Ich will mich ja auch nicht querstellen. Ich verspreche euch: Sobald die Infektionskurve wieder hochgeht, tue auch ich alles, um weitere Ansteckungen zu vermeiden. Selbstverständlich schnalle ich mir die Hygienemaske à la chinoise um, auch wenn ich mich damit etwas geniere. Notfalls zeige ich mich in der Öffentlichkeit sogar in einem Astronautenanzug oder einer Burka. Und falls ich die Vorkehrungen einmal vergessen sollte und mich die Polizei wegen Sabotage festnehmen müsste, würde ich die Beamten höflich bitten, sich vor dem Zugriff die Hände zu desinfizieren.

 

Bis es so weit ist, träume ich noch ein wenig von einem coronafreien Sommer.