Ein Mann von vorgestern

Ich wüsste eigentlich, wie ich sein müsste: solidarisch, feministisch, vegan, antimilitaristisch, pluralistisch, bewegt, politisch korrekt, multikulturalistisch, androgyn. Und vor allem moralistisch.

 

Ich mag aber nicht. Und schon gar nicht mit jener hirn- und humorlosen Verbissenheit, wie es von einem erwartet wird. Wer es denn eigentlich erwartet, weiss ich zwar nicht – aber in der Luft liegt etwas Lauerndes. Eine kollektive Anspannung, die wie ein Raubtier darauf wartet, bei der erstbesten Gelegenheit loszubrüllen: Was, du erkühnst dich, den sauber gebürsteten Ansichten des Juste Milieu nicht zu huldigen?

 

Ja, ich erkühne mich. So bin ich nun mal. Ein Fossil, das in den sexistischen Sechzigern und Siebzigern aufgewachsen ist und in den profitgierigen Achtzigern jung war. Nicht, dass ich Sexismus und Profitgier toll fände. Aber ich bin imprägniert und geprägt von einer – nicht nur tollen – Ära, in der immerhin einiges wohltuend fadengrad war. Man kann es heute kaum glauben: Aber ein Mann war damals ein Mann und eine Frau eine Frau!

 

Mich befremdet es, wenn sensible Gemüter heute von «männlich sozialisierten Menschen» sprechen. Es ginge auch einfacher. Sie meinen damit nämlich einen Mann. In denselben Kreisen nimmt man mit Bedauern wahr, dass es so etwas wie eine «männliche Sozialisierung» überhaupt gibt. Weil eine solche Erziehung zwangsläufig zu «toxischer Männlichkeit» führe. Und mich befremdet es, wenn sich manche Zeitgenossen an den öffentlichen Toilettenschildern stören, die das all- und altbekannte Männchen-Weibchen-Piktogramm zeigen. Das zementiere überholte Rollenbilder, heisst es. Wirklich? Also bitte!

 

Hier stehe ich, ich kann nicht anders: Ich bin altmodisch und politisch inkorrekt. Ich will nicht mit dem verkrampften Gendersternchen und dem unschönen Binnen-I operieren. Schon gar nicht will ich meine Mitmenschen neutralisieren und nur noch von den Musizierenden und Zuhörenden schreiben. Jetzt kommt’s noch dicker: Ich behaupte sogar (auch wenn mich Soziologen und Anthropologen vermutlich widerlegen), dass Männer und Frauen spezifische Eigenschaften und Stärken besitzen, die nicht erziehungsbedingt, sondern naturgegeben sind und sich bestens ergänzen! In einer allgemeinen Tendenz jedenfalls. Im Einzelfall sieht es auch immer wieder anders aus.

 

Und weiter mit meinem anti-zeitgeistigen Sündenregister: Ich finde es nicht sooo abgrundtief schlimm, wenn eine Beiz nach wie vor  «Zum Mohren» heisst. Und erachte es auch nicht als zwingend geboten, mich nur noch ayurvedisch zu ernähren. Schlimm finde ich hingegen, wenn Kulturdenkmäler im Namen irgendeiner marktschreierischen Ideologie gestürmt werden. Wenn in Gedichten, Gemälden, Romanen und anderen Kunstwerken von Weltrang Anstössiges aufgespürt wird, verbunden mit dem Ruf, diese Kunstwerke künftig zu ächten und am besten gleich auf den Scheiterhaufen zu werfen.

 

Vom moralischen Scheiterhaufen zum realen Autodafé ist es nur ein kleiner Schritt. Man fühlt sich manchmal schon fast physisch bedrängt, wenn man sich in bestimmten Fragen nicht mit den wahren Gläubigen gleichschalten möchte. Lieber schweigt man und hüllt sich in philosophisches Schweigen. Si tacuisses…

 

Denkt ihr nun, ich sei ein reaktionäres Schlachtross? Ein konservativer Stiernacken? Oder noch Schlimmeres? Da haben wir’s. Wer nicht erzliberal und gut ist, muss folglich erzkonservativ und böse sein. Und genau das ist es, was mich stört. Denn auch ich bemühe mich, empathisch und respektvoll zu sein, die Mitmenschen zu achten und die Natur zu schützen. Auch ich bin erschüttert, wenn Verbrechen gegen die Menschlichkeit geschehen; wenn wehrlose Mitgeschöpfe misshandelt und ausgebeutet werden; wenn die Umwelt leidet.

 

Aber ich mag mein Fühlen und Handeln nicht nach einer schrillen Ideologie der Moral, der Empörung und der Aufregung ausrichten. Ich möchte mir zu jedem Problem, zu jedem Thema zuerst eine differenzierte Meinung bilden. Darüber reden. Ideen und Gedanken austauschen. Und zuallererst: als Diskussionsbasis offen und ehrlich meine Meinung auf den Tisch legen, ohne Gefahr zu laufen, sofort in der «falschen Ecke» zu landen – dort, wo ich eigentlich gar nicht hingehöre.

 

Zugegeben: Die meisten Leute in meinem Umfeld sind locker, cool und wahrhaft vernünftig. Ich liebe es, mich mit ihnen auszutauschen. Es sind aber leider nicht die Vernünftigen, die das öffentliche Klima und den medialen Diskurs prägen. Es sind ein paar wenige Korrektheitsfanatiker*innen und MoralpriesterInnen. Sie sind laut und lassen ständig die Pressluftfanfare schmettern. Hört bitte auf mit diesem Getöse. Man versteht ja das eigene Wort nicht mehr.

 

Ich glaube allerdings nicht, dass es besser wird. Es fällt mir schwer, es zu gestehen, aber ich bin etwas vom Schlimmsten, was man nach korrekter Auffassung heute sein kann: Ich bin ein Kulturpessimist.