Beethoven und seine dunkle Haut

Vor 250 Jahren kam in Bonn ein Knabe zur Welt, der als Erwachsener die Welt von sich reden machte: Ludwig van Beethoven (1770 – 1827). Der Genius von der Kurfürstenstadt am Rhein hielt die verwöhnten Kennerkreise mit seinem brillanten Klavierspiel in Atem. Als Komponist vollendete er die Ära der Wiener Klassik, bahnte der Romantik den Weg und schuf trotz seiner zunehmenden Gehörlosigkeit Werke, die zum musikalischen Welterbe gehören. Das hohe Jubiläum dieses bedeutenden und auch ziemlich eigenbrötlerischen Musikers wird heuer im Rahmen eines Gedenkjahrs begangen.

 

Wer kennt es nicht, das hochberühmte Motiv der Fünften Sinfonie, jenes düstere Tatata-taa, mit dem das Schicksal dräuend an die Tür klopft? Oder den jubelnden Schlusschor der Neunten Sinfonie, in dem «alle Menschen Brüder» werden und «dieser Kuss der ganzen Welt» gehört? Oder das luftig-romantische Schmeicheln in jenem prägnanten Klavierstück, das der Maestro «Für Elise» schrieb? Oder die gravitätischen Triolen in cis-Moll, die dem ersten Satz der Mondscheinsonate diesen träumerischen und melancholischen Charakter verleihen? Beethovens Schaffenskraft war schier unerschöpflich, seine Bedeutung für die nachfolgenden Musikergenerationen enorm.

 

Über diesen erzdeutschen Komponisten, der sich in seiner Wahlheimat Wien zu höchsten musikalischen Höhen aufschwang, existiert seit gut hundert Jahren eine bis vor Kurzem wenig beachtete, aber interessante Theorie: Beethoven soll afrikanisches Blut gehabt haben, also recht eigentlich ein «schwarzer» Komponist gewesen sein wie zwei Generationen später Scott Joplin in den USA. Der erste, der diese Behauptung aufstellte, war der afrikanisch-britische Komponist Samuel Coleridge-Taylor (1875 1912).

 

Solche Thesen finde ich immer spannend. Vor allem, wenn eine gewisse Möglichkeit besteht, dass sie stimmen könnten. Sie überraschen, verblüffen und schaffen eine alternative Wirklichkeit zu der, die wir zu kennen glauben. Sie laden uns zu Gedankenspielen ein, die unseren Horizont erweitern.

 

Hatte Beethoven afrikanische Wurzeln? Seine Vorfahren stammten aus den Niederlanden, die einst unter spanischer Herrschaft standen. Im Heer des spanischen Königs, das aufgrund jahrzehntelanger Wirren in den Niederlanden stationiert war, dienten wahrscheinlich auch dunkelhäutige Menschen aus spanisch beherrschten nordafrikanischen Gebieten. Somit wäre es immerhin denkbar, dass der Familie Beethoven aus dem Besatzungstross etwas Blut aus Afrika zugeflossen war. Diese Gene könnten sich später in der dunklen Hautfarbe des grossen Beethoven niedergeschlagen haben.

 

Auffallend dunkelhäutig war der Komponist nämlich, wie Zeitzeugen berichteten. Wegen seines Teints und seiner fast schwarzen Augen wurde er von seinen Freunden «der Spagnol» genannt, der Spanier also. Was stracks zu weiteren Überlegungen und Mutmassungen führt: Könnte Beethoven über seinen hypothetischen spanisch-afrikanischen Vorfahren nebst berberischem oder sogar subsaharischem nicht auch einen Schuss Blut von den Arabern und den Roma mitbekommen haben? Von jenen zwei Völkern also, die auf spanischem Boden ebenso eine Heimat gefunden hatten wie einst die Goten? Welten tun sich auf…

 

Ein solches südliches Erbe müsste sich doch, sinniere ich weiter, in Beethovens Musik wiederfinden. Tatsächlich zieht sich durch sein gesamtes Werk ein Temperament, das immer wieder glutvoll ausbricht und seiner Musik besondere Würze verleiht, es mit seinen dynamischen Gegensätzen und starken rhythmischen Akzenten gewissermassen «südländisch» imprägniert, während ein dunkles Pathos und schwermütige Grübelei den «nordischen» Gegenpol beisteuern.

 

Man könnte noch weiter gehen und Beethoven als Vater des Boogie-Woogie bezeichnen, der diesen elektrisierenden Stil bereits hundert Jahre vor den afroamerikanischen Pianisten ins Leben setzte. Die dritte Variation im zweiten Satz seiner letzten Klaviersonate Op. 111 klingt verblüffend bluesig, und auch die Takte 307 bis 316 seiner emotionalen und feurigen Egmont-Ouvertüre erinnern mich immer wieder an einen rollenden Boogie, desgleichen der erste Satz der Sonate pathétique mit seinem drängenden und donnernden Drive.

 

All das beweist aber noch lange nicht, dass Beethoven tatsächlich afrikanisches, sarazenisches oder romanesisches Blut hatte. Und hätte er es gehabt, dann wäre es in seiner Musik nicht zu finden. In seinem Fall ist der Hang zu starken Rhythmen und neuartiger Harmonik kein afrikanisches Erbe.

 

Gewisse Eigenschaften des Charakters und des Temperaments sind genetisch angelegt, wie die moderne Forschung lehrt. Gleichzeitig sagt sie aber auch, dass uns die sozialen und bildungsmässigen Aspekte noch stärker als die Erbanlagen prägen. Beethovens Musik wurzelt im Nährboden der Europäer Bach, Haydn und Mozart, nicht in den Tänzen der afrikanischen Ethnien. Seine bewegten Rhythmen und harmonischen Experimente sagen nichts über eine afrikanische Abstammung oder gar über eine afrikanisch inspirierte Vorwegnahme des Jazz aus. Beethovens österreichischer Berufskollege und Zeitgenosse Joseph Haydn war mindestens so synkopierfreudig wie er, und der Pole Frédéric Chopin verfuhr nur fünfzehn Jahre später auf dem Klavier bereits bedeutend «jazziger».

 

Daraus folgt: Ob Beethoven afrikanisches Blut hatte oder auch nicht, ist völlig egal. Es spielt in Bezug auf seine Genialität und sein Werk schlicht keine Rolle. Jeder könnte die Hammerklaviersonate, Fidelio oder die Missa Solemnis geschrieben haben. Wenn er gut geschult und fleissig war. Und vor allem: begnadet und inspiriert. Dass er Ludwig van Beethoven hiess, ist Zufall. Dass er vielleicht afrikanisches Blut hatte, ebenfalls. Und gerade das ist es, was mich daran so schön und menschenverbindend dünkt: Die Muse küsst, wen sie will. Oder, wie es in der Neunten Sinfonie hymnisch, fast himmlisch erklingt: Seid umschlungen, Millionen! Diesen Kuss der ganzen Welt!