Genug ist nicht genug

In letzter Zeit habe ich sehr viele Leserkommentare in den Online-Ausgaben diverser Zeitungen gelesen. Es gibt ja in bewegten Zeiten auch viel zu kommentieren. Für manche Bürgerinnen und Bürger scheint es geradezu eine Sucht zu sein, den Journalisten und Politikern übers Maul zu fahren. Und ich, ich bin schon fast süchtig danach, regelmässig diese Kommentare zu lesen.

 

Aber ich sollte damit aufhören. Unglaublich, was da alles an medizinischem, virologischem, epidemiologischem, mathematischem, statistischem, politischem und soziologischem Halbwissen, Unwissen und vor allem: Besserwissen zusammenkommt. Gerade jetzt, während der Corona-Pandemie, die auch in der Schweiz einen neuen Anlauf zu nehmen scheint. (Meine Hoffung auf einen coronafreien Sommer hat sich leider zerschlagen.)

 

Maske auf im Öffentlichen Verkehr, lautet neu die bundesrätliche Verordnung zum Schutz vor neuen Ansteckungen. Manchen genügt das jedoch noch lange nicht. Schon rufen sie im Netz zornig nach der Maske im Supermarkt, in der Beiz, auf der Strasse, im Schwimmbad und zu Hause im Bett. Sie können nicht genug bekommen von verordneten Massnahmen. Sie möchten das gesamte Leben maskieren, wenn es irgend ginge.

 

Ihre Forderungen tönen sehr apodiktisch: Fertig jetzt mit dem Larifari. Maske überall, nicht nur im ÖV. Zudem: Clubs schliessen, Restaurants schliessen, Kinos schliessen, alles schliessen. Wirtschaft stilllegen. Wer aus dem Ausland kommt, ab in die halbjährige Quarantäne. Überhaupt: Alle zu Hause bleiben und auf den Impfstoff warten. Danke.

 

Selbstverständlich ist es gut, wenn Massnahmen gegen die wieder erwachte Seuche ergriffen werden. Auch die Maske im ÖV ist einen Versuch wert. Aber was denken sich jene Leute, die am liebsten auch noch ihrem Hydranten vor dem Haus eine Maske umhängen und die Bevölkerung bis zum Sommer 2021 oder länger in Luftschutzkellern einsperren möchten? Ihnen ist vermutlich entgangen, dass es heute, vierzig Jahre nach dem Auftauchen einer anderen schlimmen Krankheit – ich rede von Aids – noch keinen Impfstoff gibt. Und auch keine therapeutischen Massnahmen, die die Krankheit wirklich heilen.

 

Und jetzt also Corona beziehungsweise Covid-19. Im Bunker und mit vermummtem Gesicht womöglich jahrzehntelang auf einen Impfstoff warten. Vielleicht werden wir es aus Gründen der Volksgesundheit schlimmstenfalls müssen. Dann ist es für mich in Ordnung. Aber es scheint Leute zu geben, die es auf sonderbar wollüstige Art sogar wollen. Sie haben leider das Augenmass verloren. Es sei an dieser Stelle äusserst vorsichtig erwähnt, dass wir es trotz des Höchststands an denkbarer Erregung noch nicht ganz mit einer mittelalterlichen Pestepidemie zu tun haben. Trotzdem haben die Maskenfetischisten im wahrsten Sinn eine Höllenangst.

 

Im Mittelalter gab’s gegen die Angst vor der Hölle ein teures Stück Papier, auf dem geschrieben stand, dass einem der Papst alle Sünden vergebe. Heute gibt’s ein etwas weniger teures Stück Papier, das man sich vors Gesicht schnallt; es möge uns bewahren vor Pestilenz, Cholera, Angst, Verzweiflung und Chaos. Hoffen wir, dass es nicht nur wirkt, sondern rasch und nachhaltig wirkt. Denn zehn Jahre Maskenball, das finden mit Sicherheit auch in der Wolle gefärbte Lockdown-Hardliner nicht mehr lustig.

 

Aber vielleicht darf man die Gewöhnung an die Maske ja auch als erste kulturelle Annäherung an die neue Supermacht China verstehen. Hier trugen die geschlechtslosen Diener schon vor Jahrhunderten ihrem Kaiser die Speisen mit verhülltem Mund auf, um die erlesenen Köstlichkeiten und das Antlitz des göttlichen Herrschers nicht mit ihrem gemeinen Atem zu verunreinigen. Tönt irgendwie nicht sehr demokratisch…

 

Ich sollte definitiv aufhören, die Onlinekommentare zu lesen. Sie bringen mich auf Abwege.

 

(Sorry, dass ich noch einmal Corona aufgegriffen habe. Es hat mich halt gejuckt. Aber eigentlich langweilt es langsam. Beim nächsten Mal erzähle ich eine mystische Sommergeschichte aus dem Emmental.)