Der Stein des Weisen

Eine patriotische Reise – das muss Ende Juli, ein paar Tage vor dem Schweizer Nationalfeiertag, natürlich eine Reise auf die Rütliwiese sein, die mythische Geburtsstätte der Schweiz. Nein, muss es nicht. Ich habe mich für eine Reise nach Flüeli-Ranft im Kanton Obwalden entschieden, wo seinerzeit Bruder Klaus lebte und wirkte.

 

Bruder Klaus ist als Statue in vielen katholischen Kirchen der Schweiz gegenwärtig, dargestellt als Archetyp des Einsiedlers, mit ärmlicher Kutte, asketisch ausgemergeltem Gesicht, ungepflegtem Haar, patriarchalem Bart, einer Gebetsschnur und einem Stecken. Einerseits riecht der Anblick dieser Gestalt für meine evangelisch-reformierte Nase etwas sehr nach Kerzen und Weihrauch – andererseits handelt es sich bei Bruder Klaus immerhin um den Schweizer Nationalheiligen, der nicht nur den Katholiken gehört. Auch ich bin fasziniert von ihm. Zumal ihn viel Transzendentes und Irrationales umwebt, nach dem ich mich so sehne. Das Schlagwort von der «reformierten Nüchternheit und Aufgeklärtheit» ist für mich sowieso ein Unding. Eine Religion, die vor allem nüchtern sein will, ist blutleer.

 

Deshalb also meine Pilgerfahrt zur einstigen Wirkungsstätte des Mystikers von Flüeli-Ranft. Niklaus von Flüe lebte von 1417 bis 1487. Er war Landwirt, wohlhabend und gesellschaftlich angesehen. Im Jahr 1467 kam es in seiner Biografie zu einem radikalen Einschnitt: Einem inneren Ruf folgend, verliess er Frau und Kinder, um sein Leben fortan Gott zu weihen. In einer waldigen Schlucht suchte er die Einsamkeit und begann, ein kontemplatives Leben als Eremit zu führen, nicht weit von seinem ehemaligen Bauernhof in einer bescheidenen Klause.

 

Klaus der Klausner erwarb sich schnell den Ruf eines Heiligen. Er hatte kraftvolle und tiefenpsychologisch hochinteressante Visionen – in einer davon erblickte er sogar das Antlitz Gottes –, übte sich in intensivem Fasten und wusste guten Rat zu jedem Problem. Kein Wunder, hatte der wundersame Weise in der Einsamkeit viel Besuch, sodass von Einsamkeit eigentlich keine Rede mehr sein konnte. Er beriet einfache Menschen aus dem Volk ebenso wie einflussreiche Politiker, die einen weiten Weg auf sich genommen hatten. Bruder Klaus war ein spiritueller Superstar, eine Art christlicher Dalai Lama des ausklingenden Mittelalters.

 

Von einem früheren Besuch in Flüeli-Ranft wusste ich, dass seine ehemalige Klause ein besonderes Relikt beherbergt: den Stein, auf den der Asket beim Schlafen sein Haupt bettete. Ein mit Visionen und heiligen Gedanken vollgesogenes Objekt also. Diesem Stein des Weisen wollte ich wieder einmal die Reverenz erweisen, wollte ihn andächtig berühren, ganz und gar unreformiert und fast wundergläubig.

 

Verrückt, was? Aber der Mensch ist bloss zu einem kleinen Teil ein rationales Wesen. Der andere, grössere Teil will staunen, träumen, bewundern, sucht das Unerklärliche und Überirdische. Das gilt auch für meine reformierte Seele, und dazu stehe ich.

 

So wandelte ich denn jüngst den schmalen Waldweg hinunter zur Behausung, in der Bruder Klaus betete, meditierte und Menschen empfing. Unten in der Schlucht schäumte und rauschte der wilde Bergbach, die Melchaa, und drinnen auf der Holzbank, die dem Eremiten vor Jahrhunderten als Bett gedient hatte, lag der Stein: kohlkopfgross, kompakt, dunkelgrau, mit einer weisslichen Kalzitfläche am einen Ende und leicht speckig, vermutlich von den Berührungen ungezählter Wallfahrer. Oder sogar vom natürlichen Haarfett des Einsiedlers selbst.

 

Gerade war, ausser meinen Jungs, niemand sonst in der halbdüsteren Zelle. Ehrfürchtig trat ich zum Stein, streckte die rechte Hand aus und berührte ihn. Was geschah? Fuhr es mir ein wie ein elektrischer Blitz? Hatte ich eine Vision? Wurde ich auf einen Schlag meine Magenprobleme und meine Knieschmerzen los?

 

Nichts dergleichen. Der Stein war angenehm kühl. Es fühlte sich an, als würde ich die Hand in eine stille Waldquelle tauchen. Auch ohne grosses Wunder war es ein besonderer Moment. So ist es eben, wenn ein «nüchterner Reformierter» einen heiligen Stein berührt. Das Unfassbare liegt nicht im Wunder, sondern im Alltag. Man muss es nur finden und empfinden.