Vorwärts in die Vergangenheit

Das Mittelalter gilt als Synonym für rückständig, dunkel, wissenschaftsfeindlich und gewalttätig. Auf das Mittelalter folgte die Renaissance, mit ihr blühten die Künste und Wissenschaften auf. Dann kam die Aufklärung, auf die wir uns stolz berufen, wenn wir die heutige «aufgeklärte», rationale, faktenbasierte, wissenschaftsorientierte und fortschrittsfreundliche Zeit lobpreisen.

 

Jeder Zustand hat aber seinen Gegenpol. Die Aufklärung gebar im 18. Jahrhundert als Kontrapunkt zur sterilen Vernünftelei die Empfindsamkeit und schliesslich die träumerische Romantik. Diese ist noch heute wirksam. So nüchtern, kritisch, ungläubig und rational, so «aufgeklärt» eben, wie wir uns gerne sehen, sind wir nämlich gar nicht. Im Gegenteil. Die Gegenströmung ist stark. So stark, dass wir uns derzeit mitten in einem neuen Mittelalter befinden. Woran dies zu erkennen ist, sei in sieben Punkten kurz skizziert.

 

Glaube. Das Mittelalter richtete sich ganz und gar nach der Religion aus. Nicht Mess- und Wägbares, nicht Beweisbares bestimmte das Leben, sondern das, was die Kirche als wahrhaftig verkündete. Den Takt bestimmte der Glaube, nicht das Wissen. Heute befindet sich das Christentum in steilem Sinkflug. So unaufgeklärt, dass man an die Auferstehung und andere Wunder glaubt, will man natürlich nicht sein. Dafür glaubt man an die völlig unbewiesene Wirksamkeit von homöopathischen Heilmitteln und an Handystrahlung, über die sich angeblich das Coronavirus verbreitet. Weiter an das Gerücht, dass es sich bei den britischen Royals nicht um Menschen, sondern um eine Sippe von gestaltwandlerischen Ausserirdischen handle. An Geheimnisvolles geglaubt wird also weiterhin – nur, dass an die Stelle theologischer Lehrsätze Esoterisches und Verschwörungstheoretisches getreten ist.

 

Fanatismus. Darüber, wie mittelalterliche Menschen ihren Glauben lebten und verfochten, schütteln wir heute den Kopf. Wie sie pilgerten bis zum Umfallen, sich in spektakulären Busszügen selbst auspeitschten und theologische Abweichler auf den brennenden Scheiterhaufen warfen. Dieser heilige Eifer ist uns fremd. Scheinbar jedenfalls. Abweichler haben es wieder schwer. Wer Fleisch isst, die Berner Reithalle als unzeitgemässes Relikt aus den Achtzigern bezeichnet, sich nicht übermässig genderbewusst gebärdet, nicht jede sexuelle Vorliebe als völlig normal betrachtet und auch lieber nicht bis ans Ende aller Tage mit einer Hygienemaske herumlaufen möchte, erntet zuerst Shitstorms, dann Morddrohungen. Seine fanatischen Gegner, die Nachbeter enger Ideologien, haben Aufwind – und wie!

 

Ablass. Der mittelalterliche Mensch lebte in ständiger Angst. Er fürchtete, ewig in der Hölle zu braten, wenn er nicht alle frommen Vorkehrungen traf, um dies zu verhindern. Im Spätmittelalter kamen geschäftstüchtige Kleriker auf die Idee, sogenannte Ablassbriefe zu verkaufen. Wer einen solchen Brief gegen klingende Münze erwarb, kaufte sich von seinen Sünden frei. Heute kauft man sich nicht mehr von geistlichen Verfehlungen, sondern vom schlechten Gewissen frei. Eine kleine Spende ans Heks, das Rote Kreuz, an Caritas, Terre des Hommes, die Tibetfreunde... Die Profis werden’s mit dem Geld schon richten. Ich bin fein raus und brauche mich nicht mehr persönlich um all das Elend um mich herum zu kümmern. Und auch die Umwelt helfe ich retten, indem ich Kompensationszahlungen leiste. Als Gegenleistung kann ich wieder mal in ein Flugzeug steigen, ohne meinen Seelenfrieden zu stören.

 

Heilige. Im Mittelalter lagen Heilige voll im Trend. Man baute ihnen Altäre, rief sie an, als seien sie Götter, und unternahm Pilgerreisen zu ihren sterblichen Überresten. Dieser Kult ist heute lebendiger denn je – nur die Besetzung ist eine andere. Statt der heiligen Barbara und dem heiligen Nepumuk jubeln die Massen heute dem heiligen Eminem und der heiligen Beyoncé zu. Hoch in Kurs sind auch St. Trump, St. Putin, St. Brangelina und ungezählte weitere Gepriesene aus Politik, Kultur und Sport. Sogar eine moderne Johanna von Orleans haben wir: Greta, die Schutzpatronin der Wälder, der Luft und der Weltmeere. Ihnen allen wird eine mediale und gesellschaftliche Aufmerksamkeit zuteil, wie sie sich die Heiligen des Mittelalters nur erträumen konnten. Medienschaffende bezeichnen Lady Gaga stereotyp als Pop-Ikone, David Beckham als Fussball-Ikone und Tom Cruise als Film-Ikone. Ikonen sind bekanntlich Heiligenbilder der griechischen und russischen Kirche. Entsprechend werden die Kinder seit den 1980er-Jahren nach den neuen Heiligen benannt: Kevin (allein zu Haus), Yannick (Noah), Emma (Watson), Kim (Kardashian), Liam (Neeson).

 

Adel. Im Mittelalter war der gewöhnliche Mensch nichts, der Adel alles. Der Adel konnte mit den ihm anvertrauten Leibeigenen in den Dörfern umspringen, wie ihm beliebte. Dass er mit ihnen meist nicht sehr pfleglich umsprang, versteht sich von selbst. Rabiate Machtdemonstrationen bereiten mehr Spass als Fürsorglichkeit. Und sind rentabler. Als Gewaltherrscher kann man die Untertanen nach Herzenslust auspressen und das von ihnen Erwirtschaftete in die eigene Tasche leiten. Heute sind wir zum Glück alle gleich. Der Adel ist abgeschafft. Und doch bildet sich ein neuer Adel heraus: der Wirtschaftsadel. Tycoons werden hofiert, als seien sie Herzöge und Könige. Und die, die für sie arbeiten, werden zunehmend zu Leibeigenen. Die Freiheit ist nur noch scheinbar. Wer nicht schon von Kindesbeinen an lernt, wie man sich den Mächtigen der Wirtschaft am besten verkauft, hat bereits verloren. Man findet solche Verlierer in erschreckender Zahl auf der Gasse.

 

Kreuzzüge. In mehreren kriegerischen Unternehmungen zwischen 1100 und 1400 trat die Ritterschaft Europas gegen islamische Herrscher an, die in Palästina und anderswo das Sagen hatten. Diese Kriegs- und Plünderungszüge waren geprägt von radikaler Rechthaberei: Wer nicht für uns Christen ist, ist gegen uns. Und gehört abgeschlachtet. Nun – die Kreuzzüge sind Vergangenheit. Falsch! Gerade ist wieder einer im Gang. Eine Kulturrevolution, die im Namen eines leider sehr radikal und aggressiv auftretenden Antirassismus die eigene Geschichte abschaffen möchte. Alle, die auch nur im Entferntesten mit Rassismus und Kolonialismus in Verbindung gebracht werden können, sollen unerbittlich aus dem kollektiven Gedächtnis getilgt werden: George Washington, Rudyard Kipling, David Livingstone, Albert Schweitzer, Keith Richards, Mutter Theresa, Johanna Spyri, Madame Bovary, Mona Lisa, Micky Maus... Zugegeben: Viele von ihnen haben mit Kolonialismus und Rassismus nichts zu tun. Egal. Mit etwas Fantasie findet sich schon etwas. Und Hauptsache, man darf Denkmäler stürzen.

 

Gewalt. Missetäter wurden im «dunklen Zeitalter» auf eine Art bestraft, die man nur als brutal bezeichnen kann. Überhaupt beherrschte nicht christliche Sanftmut den Alltag, sondern Gewalt, ausgeübt vom Adel gegenüber den Bauern, von den Bauern gegenüber ihren Frauen und Kindern, vom Kaiser gegenüber seinen Feinden, vom Ritter gegenüber einem anderen Ritter, von Wegelagerern gegenüber Reisenden. Es herrschte das Recht der Faust und des Schwerts. Heute trinken wir Sojamilch, die uns gewaltfrei macht. Oder vielleicht doch nicht. Gewalt scheint derzeit wieder gross am Kommen zu sein. Hart zuschlagende Jungs und Mädels, prügelnde Fussballfans, tätlich ausrastende Fahrgäste im öffentlichen Verkehr, fausterprobte Möchtegern-Erzieher im Individualverkehr, amoklaufende Schüler, brutale US-Cops, noch brutalere Menschenhändler, dazu Staatsoberhäupter, die auch vor der Liquidation ihrer Gegner nicht zurückschrecken... Nein, wir leben nicht im gewaltfreien Utopia. Wir leben im Mittelalter.

 

Fazit. Willkommen im neuen Mittelalter. Wo bleiben die Errungenschaften der Aufklärung, die uns während Jahrhunderten geprägt hat? Auf der Strecke, würde ich sagen. Das ist einesteils bedenklich, anderenteils nicht gar so schlimm. Denn der Mensch ist nicht reine Vernunft. Die reine Vernunft, der nüchterne Rationalismus macht uns kaputt. Das ist vielleicht auch der Grund, weshalb so vieles um uns herum aus den Fugen gerät. Wir sind geistig ausgetrocknet und spirituell verarmt. Wir spüren Sehnsucht nach etwas Neuem, Befreiendem. Dass dies ein neues Mittelalter sein könnte, ist bloss mal ein ungeschickter Versuch. Etwas wirklich Neues wird kommen, daran glaube ich in bester mittelalterlicher Manier.