Wo ist die Katze?

Vor fünfzehn Jahren lebte noch unsere erste Katze, ein kohlenschwarzes, sanftes und kinderfreundliches Wesen. Ein kleines Mädchen, das in der Nähe in den Kindergarten ging, liess es sich auf dem Schulweg nie nehmen, rasch einen kleinen Halt einzulegen und die Katze zu streicheln. Das Mädchen vernarrte sich geradezu in unsere schleichende Pelzträgerin, und wenn sie einmal gerade nicht in Sichtweite war, fragte das Kind: Wo ist die Katze?

 

Einmal kam das Mädchen sogar zu uns ins Haus. Es stand, von draussen lautlos hereingeweht, mit umgehängter Kindergartentasche auf einmal im Zimmer unserer zwei kleinen Jungs und fragte: Wo ist die Katze? Die war gerade nicht zugegen, dafür einer der beiden Jungs. Er hatte Fieber, stellte sich schlafend und war über den unverhofften Besuch ziemlich entsetzt.

 

Irgendwann sahen wir das Mädchen nicht mehr. Es ging nun zur Schule, und der Schulweg führte wohl nicht mehr an unserem Garten vorbei. Seine Kurzbesuche wurden zur Erinnerung, heiter, aber zunehmend verblassend.

 

Die Katze starb, ein gutmütiger Kater aus dem Tierheim trat an ihre Stelle, auch er starb nach etlichen glücklichen Jahren. Jetzt ist eine ziemlich distinguierte Tigerlady unsere Hauskatze.

 

Und da, nach all den Jahren, stand es plötzlich wieder vor der Gartentür, das Mädchen, mit seinem schwarzen Wuschelkopf, den grossen dunklen Augen, dem ernsten Gesicht und der roten Umhängetasche. Und schon kam die Frage: Wo ist die Katze?

 

«Ich sehe sie gerade nirgends, das kann dauern, bis sie kommt. Sie macht drum, was sie will», sagte ich freundlich. «Kannst ja morgen wieder vorbeikommen und schauen, ob sie da ist.»

 

Das Kind lächelte mich an und zog grusslos seines Wegs. Aber... was war das soeben? Unsere Söhne sind mittlerweile erwachsen. Das Mädchen ist noch immer fünf. Seither ist so viel Zeit vergangen, so viel geschehen, so viel gesagt und getan worden, so viel Schönes und Schwieriges, Heiteres und Herausforderndes – und ich, ich bin langsam in ein schwebendes Übergangsalter hineingeglitten, in die zweite Hälfte der Fünfziger, mit der Aussicht, bald sechzig und definitiv ein «reiferer», ja «älterer» Herr zu werden, wenn ich auch noch weit davon entfernt bin, mich so zu fühlen... Die unsterbliche Zeit meiner Jugend, das war doch erst gestern, oder nicht?

 

Und jetzt dieses aus einem früheren Lebensabschnitt geheimnisvoll aufgetauchte Mädchen. Eigentlich müsste es zwanzig sein, aber es ist immer noch fünf. Es erinnert mich daran, dass meine Zeit verweilen möchte, obwohl sie gnadenlos eilt und eilt. Nur die Erinnerungen bleiben ewig jung. Wie das Mädchen vorhin, das schon vor fünfzehn Jahren fragte: Wo ist die Katze?