Ein Hoch auf die Dichtkunst

Auch ich gehöre zu jenen, die kiloweise Krimi- und Thrillerprosa verschlingen, dazu ab und an einen Band klassische Literatur – ebenfalls in Prosa. Unsere höchste Wertschätzung aber sollte jenem sprachlichen Ausdruck gelten, vor dem jeder Verleger aus wirtschaftlichen Gründen entsetzt zurückschreckt: dem Gedicht. Obwohl heute kaum mehr jemand Lyrik liest, ist es gerade diese Gattung, die uns vor Augen führt, wie gutes, treffendes und aussagestarkes Schreiben geht. Sag es kurz, sag es dicht, sag es überraschend.

 

Dabei denke ich nicht an die buchfüllenden Heldengedichte der Antike oder die epischen Balladen von Schiller. Solches könnte man schadlos auch in Prosa erzählen. Sondern an kurze, prägnante Wortgeschmeide zu zwei oder drei, maximal vier Strophen. In der Knappheit zeigt sich die wahre Meisterschaft des Poeten. Dichtkunst ist schliesslich die Kunst des Verdichtens.

 

Wunderbare Beispiele sind die Haikus, die japanischen Dreizeiler im Silbenschema fünf-sieben-fünf. Leider wirken sie in der deutschen Fassung oft banal, weil die bewusst und virtuos eingesetzte Mehrdeutigkeit der japanischen Schriftzeichen bei der Übersetzung unweigerlich verloren geht. (Ich kann übrigens nicht Japanisch, falls dieser Eindruck entstanden sein sollte.)

 

Man muss aber nicht nach Japan blicken, um der Freuden kurz gefasster Wortkunst teilhaftig zu werden. Die deutsche Lyrik hat in dieser Hinsicht viel Gediegenes zu bieten: Rainer Maria Rilke, Christian Morgenstern, Stefan George, Rose Ausländer, Else Lasker-Schüler, Georg Trakl, Sarah Kirsch, Günter Eich, Johannes Bobrowski. Und viele andere.

 

Diese Dichter schlagen uns nicht wilde Geschichten auf vollen Seiten um die Ohren, sie stimmen die leeren Saiten und flössen uns in homöopathischer Dosierung das Opium magischer Momente ein, bei denen es um das Wesentliche geht: Natur, Liebe, Leben, Angst, Freude, Suche, Sehnsucht, Transzendenz. Als Beispiel sei hier das zweistrophige Gedicht «Herbstbild» von Friedrich Hebbel angeführt. Diese Verse zeigen in schönster Manier, welche Fülle, welcher Atem, welche Stimmung in bündiger Kürze liegen kann.

 

Dies ist ein Herbsttag, wie ich keinen sah!
Die Luft ist still, als atmete man kaum,
und dennoch fallen raschelnd, fern und nah,
die schönsten Früchte ab von jedem Baum.

 

O stört sie nicht, die Feier der Natur!
Dies ist die Lese, die sie selber hält;
denn heute löst sich von den Zweigen nur,
was vor dem milden Strahl der Sonne fällt.