Die alte Zeit, die von gestern

Heute habe ich in der Magazinbeilage einer renommierten deutschen Zeitung einen Essay über die Vor- und Nachteile des Büros als Arbeitsplatz gelesen. Darin war auch von weiblichen Angestellten die Rede, die sich «im frühen 19. Jahrhundert» an den schweren Schreibmaschinen oft Sehnenscheidenentzündungen geholt hätten. Ich ging von einem datierungstechnischen Flüchtigkeitsfehler aus, sah grosszügig darüber hinweg und las weiter.

 

Wenn nur nicht eine Spalte später wieder von den Typistinnen des «19. Jahrhunderts» die Rede gewesen wäre... Da wurde mir klar: Kein Flüchtigkeitsfehler, sondern volle Absicht. Obwohl die Schreibmaschinen mitsamt den Tippmamsells erst vor rund hundert Jahren in die Büros kamen. Was die Verfasserin des lesenswerten und charmant geschriebenen Essays mit Sicherheit weiss. Und entsprechend die Jahre zwischen 1900 und 1920 meint. Und weil diese Jahreszahlen mit 19 beginnen, muss es sich eben um das «frühe 19. Jahrhundert» handeln. Oder?

 

Natürlich falsch. Wir Babyboomer haben es damals in der Schule noch richtig gelernt. «Liebe Kinder, wir schreiben jetzt das Jahr 1973, aber dem ganzen Jahrhundert, in dem wir leben, sagt man das 20. Jahrhundert.» Wegen des ersten Jahrhunderts unserer Zeitrechnung, das eben noch keinen Hunderter in seinen Jahreszahlen führt und logischerweise trotzdem das erste Jahrhundert ist. Daraus folgt, dass das Jahrhundert mit dem ersten Hunderter bereits das zweite Jahrhundert ist.

 

Nun aber ist nicht alles, was logisch und korrekt ist, auch nach dem Geschmack der Allgemeinheit. Wenn, sagen wir mal, von einem Zeitraum zwischen 1705 und 1715 die Rede ist, kommt schnell die Versuchung auf, dieses Jahrzehnt salopp und etwas denkfaul als «das frühe 17. Jahrhundert» zu bezeichnen. Falsch, aber praktisch.

 

So praktisch, dass heute immer öfter falsch mit den Jahrhunderten umgesprungen wird, das fällt beim Lesen von Büchern, Zeitungsartikeln und Onlinebeiträgen unweigerlich auf. Was ich noch vor zehn Jahren als peinlichen Dilettantenschnitzer bezeichnet hätte, muss ich heute schon fast als neuen Standard betrachten. Wie gesagt fast – man müsste die verworrene Lage einmal offiziell klären.

 

Und wenn man sich bei einer Jahrhundert-Konferenz darauf einigen würde, dass Johann Sebastian Bach mit Jahrgang 1685 nach neuer Lesart im 16. Jahrhundert zur Welt kam und Ludwig van Beethoven (1770) im 17. Jahrhunderts aufwuchs, müsste ich diese Regelung natürlich akzeptieren. Eine solche Datierung wäre zwar falsch, aber doch wenigstens einheitlich und somit richtig.

 

Allerdings: Wenn ich mir so überlege, dass ich dann ja mit Jahrgang 1963 im 19. Jahrhundert geboren worden wäre, geriete meine Welt schon ein bisschen aus den Fugen. Das 19. Jahrhundert, das ist und bleibt für mich das Jahrhundert Napoleons, Chopins, Gotthelfs, des Wilden Westens, der Bourbaki-Armee, der Dampfmaschinen, der Eisenbahnpioniere, der Fräcke, Zylinderhüte und Reifröcke. Sooo alt bin ich nun auch wieder nicht.