Ich werde langsam ein alter A…

Heute Abend im Feierabendzug. Es war auf der Redaktion ein ziemlich turbulenter Arbeitstag gewesen, überschattet von den trüben Corona-Aussichten auf den Nachrichtenportalen. In letzter Sekunde vor der Abfahrt des Zugs, der mich endlich nach Hause bringen sollte, stiegen zwei Leute ein, die sogleich meinen inneren Widerspruch reizten. Die beiden würden sich, das sah ich sofort, während der Fahrt nicht regelkonform verhalten. Das vielleicht 14-jährige, wild aufgemachte Mädchen und der ungefähr 50-jährige Vater mit Schlabberhose und Bierdose wirkten ziemlich verwahrlost und zugedröhnt, der Mann auch ziemlich kaputt.

 

Ich hatte richtig geahnt. Kaum fuhr der Zug los, als aus dem Abteil von Vater und Tochter auch schon das Gewummer, Gerede und Geschrei eines Videos ab portablem Gerät mit leistungsstarken Lautsprechern ertönte. Das störte mich beträchtlich, ich hatte tagsüber bereits genug um die Ohren gehabt. Noch mehr störte mich, dass die beiden glaubten, sich nicht an die Maskenpflicht halten zu müssen (obwohl ich selber nun wahrlich kein Maskenfetischist bin). Mein Ärger wuchs und wuchs – und plötzlich, ich wusste selber nicht, wie mir geschah, brüllte ich mehr, als dass ich rief, über drei Abteile hinweg nach vorn: «Tami nochmal, stellt doch das Ding leiser, ich mag nicht mithören!»

 

Wumm. Ein paar Mitreisende blickten mich dankbar an, andere dachten: Mannomann, was für ein Aggro-Typ! Dem geht man besser aus dem Weg. Und vorne wurde es nach einem kurzen Gemotze immerhin etwas leiser. Dafür fielen die beiden nun heftig kosend übereinander her, womit auch geklärt war, dass sie nicht Vater und Tochter waren.

 

Mit einer Mischung aus Faszination und Abscheu sah ich zu (ja, wie ein Spanner) und empörte mich angesichts dieses nun doch sehr enthemmten Treibens noch mehr. Es hätte nicht viel gefehlt, dass ich aufgestanden wäre und den beiden die Leviten gelesen hätte, im Sinne von: Ein Feierabendzug ist nicht das Sofa zu Hause, egal, ob ihr nun Alkoholiker seid oder nicht.

 

In Burgdorf stieg ich aus. Die frische Luft brachte mich wieder zur Besinnung. Ich erinnerte mich daran, wie ich noch vor zwanzig, dreissig Jahren reagiert hätte. Mir wäre das lebhafte Gebaren dieses Pärchens herzlich egal gewesen. Ich hätte, wenn ich in der Nähe gesessen wäre, wahrscheinlich sogar eine kleine Plauderei angefangen. Und mit den beiden eine Zigarette geraucht (damals rauchte ich noch, und es gab noch Raucherwagen, wir wären uns mit Sicherheit in einem solchen begegnet). Und heute rege ich mich über Aussenseiter, Randständige und Alkoholiker nur noch auf. Was geschieht da gerade? Ich bin jetzt 57 und merke, dass ich zu einem übellaunigen, intoleranten, stänkernden, miesepetrigen Kerl werde. Ein alter Arsch eben. Ich muss verdammt aufpassen.