Lasst uns ein wenig verharmlosen

«Jetzt muss das Virus gestoppt werden!» «Warum unternimmt keiner von diesen Schlafmützen in Bern endlich etwas?» «Es geht um jeden Einzelnen!» «Es darf keine Ansteckungen mehr geben!» «Ich habe heute im Zug jemanden verprügelt, der keine Maske trug; die anderen haben applaudiert.»

 

Ach Gott, in was für Zeiten leben wir. Dieses Gegacker, Geschrei, Getöse, diese Drohkulissen, Schuldzuweisungen, Kopflosigkeit, dieser geifernde mediale Wachhund. Gefasst und besonnen über dieses Pandemiegeschehen zu reden, ist nicht mehr möglich. Man kann sagen, was man will: Man ist entweder ein Paniker oder ein Verharmloser. Sollte «verharmlosen» unterdessen das Synonym für «ruhig nachdenken» geworden sein, dann sei es eben so: Lasst uns kurz ein wenig «verharmlosen». Einfach so. Als kleine Atempause.

 

Erstens: Die derzeit wie das Virus grassierende Vorstellung, man könne den Erreger in den nächsten Tagen und Wochen stoppen oder gar ausrotten, ist schlicht lächerlich. Wie sollte das mit Masken, Plexiglas und Desinfektionslösungen gehen? Ein so dynamisches Ansteckungsgeschehen, wie es derzeit im Gang ist, liesse sich nur mit rigorosesten Massnahmen aufhalten, wenn überhaupt. Von radikalen Vorkehrungen wie in einem Ebola-Sperrgebiet sind wir aber noch weit entfernt. Mit gutem Grund: Covid-19 ist gesundheitlich weniger desaströs als Ebola.

 

Zweitens: Es sei daran erinnert, dass es der Politik im Moment realistischerweise nicht darum geht, das Virus zu «stoppen» und jeden Einzelfall zu verhindern. Sondern darum, die Verbreitung des Erregers zu verlangsamen, damit die Spitäler nicht auf einen Schlag überfüllt werden. So kann gewährleistet werden, dass hoffentlich alle, die eine Spitalbehandlung brauchen, auch eine bekommen. Diese Verlangsamung könnte tatsächlich gelingen – mit all den angeordneten Schliessungen, Einschränkungen, Abstandsregeln, Handhygiene, Homeoffice und meinetwegen auch mit Masken à gogo. (Obwohl gerade dieses von vielen unterdessen recht elegant getragene Accessoire vermutlich nicht überschätzt werden sollte. Egal, tragen wir es halt. Ich schaffe mir demnächst ein paar gediegene zertifizierte Stoffmasken an, es dauert jetzt ja wohl etwas länger.)

 

Drittens: Mir gehen jene, die nun als Ankläger auftreten und zürnen, wir hätten im Sommer die Virengefahr sträflich vernachlässigt, ziemlich auf den Wecker. Wer frei ist von Schuld, der werfe den ersten Stein. Ich jedenfalls bekenne mich schuldig, ohne ein allzu schlechtes Gewissen zu haben, und werfe auch keine Steine.

 

Ja, Herr, ich habe gesündigt. Ich habe im Sommer mit meiner Familie im Kanton Bern ein paar Wanderungen unternommen und bin auf den rege frequentierten Routen dem einen und anderen Menschen nicht gerade in ganz grossem Bogen ausgewichen. Ja, ich war auf dem Burgäschisee rudern und habe mit dem Bootsverleiher, einem älteren Herrn, ein paar Worte gewechselt, möglicherweise in einem Abstand von etwas unter zwei Metern. Ich habe nicht nachgemessen.

 

Und ja, verflixt nochmal, wir hatten ein (regelkonformes) Familientreffen mit knapp zwanzig Personen, als im Kanton Bern das Risiko, einem Angesteckten zu begegnen, zumindest laut offiziellen Zahlen kleiner war, als sich eine sommerliche Erkältung zu holen. (Übrigens: Es ist niemand krank geworden.)

 

Ja, ich habe im selben Zeitraum an einem (ebefalls regelkonformen) Vereinsessen mit ungefähr gleich vielen Personen teilgenommen. (Ohne Krankheitsfolge.) Und ja, ich war dutzende Male bei meinen Eltern und Schwiegereltern vor und sogar IN der Wohnung.

 

Was hätten wir sonst tun sollen? Uns einbunkern, als wäre die Epidemie noch im vollen Gang? Das hätte mit praktischer Vernunft wenig zu tun gehabt. Bei alledem war uns allen klar, dass es im Herbst wieder losgehen würde, Vorsicht hin oder her. So ist es in unseren Breitengraden mit all diesen Krankheiten nun mal: Wird es dunkel und kühler, werden wir anfälliger. Das kennen wir doch irgendwie, oder nicht? Jeder Hausarzt wird das bestätigen. Mit diesem neuen Virus verhält es sich ebenso. Ich bin jedenfalls froh, mich im Sommer mit schönen Momenten gedopt zu haben. Jetzt kann der böse Corona-Herbstundwinter kommen.

 

Viertens: Noch ein kleiner Mutmacher zum Schluss. Wir schaffen das schon, mit kühlem Kopf, Vernunft und gegenseitiger Rücksichtnahme, die ja nicht gleich ins Sauertöpfische und Hysterische abzukippen braucht. Ich bin glücklich, in einer klein-mittelgrossen Stadt zu leben, in der das gut und wie selbstverständlich funktioniert. Möge es so bleiben. Und noch etwas: Gemäss einer Studie, die die WHO jüngst publiziert hat, liegt die Chance, eine Ansteckung lebend zu überstehen, bei 99,77 Prozent. Das stimmt zuversichtlich.