Der grosse Durchbruch

Ich bin Schriftsteller. Tönt ein bisschen seltsam, so als ehrbarer Beruf in der Schweiz. Da könnte ich ebenso gut sagen: Ich bin Cowboy. Oder Seeräuber. Oder, noch schlimmer: Musiker. Aber ja – ich bin nebenberuflicher Schriftsteller.

 

Ein paar meiner Bücher verkauften sich seinerzeit ganz gut, ich erreichte Hunderte und sogar Tausende Leserinnen und Leser. Doch irgendwann interessierte sich kaum noch jemand für meine neuen Bücher. Obwohl sie, meiner festen Überzeugung nach, reifer und vielschichtiger sind als meine früheren Werke. Ganz einfach besser eben.

 

Trotzdem glaube ich nicht hoffen zu dürfen, es unter meinem unzeitgemäss patriarchalen Namen Hans Herrmann noch einmal auf einen grünen Zweig zu bringen. Deshalb habe ich mich zu einer radikalen Kurskorrektur entschlossen und eine neue Identität angenommen. Und siehe da: Es funktioniert. Endlich habe ich die Nase wieder vorn, weiter vorn als je zuvor.

 

Die Idee kam mir vor anderthalb Jahren. Ich legte mir das Pseudonym Jana Kyriandros mitsamt Legende zu: 16-jährige Gymnasiastin mit Migrationshintergrund, Bloggerin, Filmemacherin, Slammerin und Kolumnistin, die jetzt ihren Erstling vorlegt. Zugegeben, mit einem iranischen oder jemenitischen Namen hätte ich noch mehr punkten können, aber der griechische Name Kyriandros musste es auch tun. Schliesslich bin ich klassisch-humanistischen Idealen verpflichtet.

 

Dann versetzte ich mich in Jana hinein und schrieb zügig ein literarisches Tagebuch zwecks Aufzeichnung und Reflexion meiner jugendlichen Befindlichkeiten, meiner Irrungen, Wirrungen, Spannungen, Unsicherheiten, Ambivalenzen und rebellischen Aufwallungen, meiner Sozialkritik, meiner Wut auf das System, meines Weltschmerzes, meiner Fremdscham und meines Selbsthasses. Dieses schwerblütige Werk versah ich mit dem Titel «winter zäune» und publizierte es bei einem Verlag für düstere, melancholische und depressive Problemliteratur. Die Verlagsleitung von meinem Buch zu begeistern, war eine Sache von einer kurzen Mail und einer kleinen Kostprobe.

 

Das Autorinnenporträt auf der rechten Umschlagklappe zeigt die Aufnahme eines Models in selbstversunkener Pose. Die junge, mir unbekannte Frau hat vermutlich nicht einmal den Hauch einer Ahnung, dass sie neuerdings Jana Kyriandros heisst und im literarischen Biotop gerade ziemlich angesagt ist.

 

«winter zäune» schlug ein wie eine Bombe. Man riss sich das Buch aus den Händen, bat mich um Interviews, lud mich zu literarischen Sendungen am Radio und Fernsehen ein, trug mir Lesungen in mindestens vierzig Buchhandlungen und Leihbüchereien im ganzen deutschen Sprachraum an. Leider musste ich immer absagen, weil ich eine neurotische Soziophobe bin. Das nimmt mir aber niemand übel, es steigert sogar die Nachfrage an meinem Buch, das unterdessen in der vierten Auflage ist und demnächst verfilmt werden soll. Drei wichtige Literaturpreise habe ich auch schon eingeheimst, verliehen in absentia.

 

Die Zeitungsschreiberinnen und -schreiber überboten und überbieten sich mit Lobeshymnen, noch jetzt, ein halbes Jahr nach Erscheinen meines Wurfs. «Ein wichtiges Buch.» «Ein unverzichtbares Buch.» «Eine junge Frau, die etwas zu sagen hat.» «Das beste Seismogramm der heutigen Jugend.» «Ergreifend, authentisch, überragend.» Eine Journalistin kalauerte: «Epochal, phänomenal, sensational.» Und diese Titelzeile schmeichelte mir besonders: «Wer hat Angst vor Jana Kyriandros?»

 

Na also. Endlich wird mir die Anerkennung und mediale Aufmerksamkeit zuteil, die mir schon lange gebührt.

 

Nun mag sich der eine oder andere Leser fragen, warum ich so blöd bin, hier, in aller Öffentlichkeit, das Geheimnis meines weiblichen Pseudonyms zu lüften und dessen offensichtlichen Erfolg aufs Spiel zu setzen. Die Antwort ist schnell gegeben: Ich plane kein zweites Buch von Jana Kyriandros. Erfahrungsgemäss ist nur der Erstling all dieser schreibenden Fräuleinwunder eine Sensation. Das zweite Buch pflegt regelmässig zu floppen und wird im Feuilleton gnadenlos disqualifiziert mit: «enttäuschend», «vermag den hohen Erwartungen nicht zu genügen», «nichtssagend» und «bewegt sich auf ausgetretenen Pfaden». Das muss ich nicht haben – ich weiss bereits, wie es sich anfühlt.