Der goldene Schuss

Pünktlich zu Weihnachten beglückt uns die Forschung mit einem besonders schönen Geschenk: mit der lang und heiss ersehnten Covid-Impfung! Geimpft werden soll zwar erst irgendwann ab Frühling, aber einige können es kaum erwarten und würden am liebsten schon jetzt den Arm hinhalten. Der Stich wird ihnen mehr Wonne bereiten als ein Schuss Heroin, denn er verheisst noch mehr Freiheit als die Droge: Endlich keine Maske mehr (vielleicht)! Endlich wieder Sportanlässe, wieder Konzerte, wieder Party, wieder grosse Familienfeste, wieder unbehindert reisen, wieder… Endlich wieder leben!

 

Natürlich wird es unter denen, die sich impfen lassen, auch sehr viele Menschen geben, die es mehr pragmatisch angehen und ohne Jubelgeschrei einfach machen, weil es sinnvoll ist. Denn sinnvoll ist es bestimmt – auf jeden Fall ein Beitrag, um diese nun langsam wirklich beschwerliche Pandemie einzudämmen.

 

Schon jetzt, vor der grossen Impferei, tut sich aber einmal mehr ein ideologischer Graben auf: der Graben zwischen denen, die vorhaben, sich impfen lassen, und denen, die dies nicht wollen. Bereits schwirren erste Moralpfeile durch die Luft: Wenn du dich nicht impfen lässt, bist du ein verantwortungsloser Lump, ein Volksschädling!

 

Ich bekenne: Auch ich gehöre zu denen, die im Moment keine Impfpläne hegen und froh sind, wenn sie nicht gezwungen werden. Hört mich aber zuerst an, bevor ihr mich lyncht. Ich bin weder ein Verschwörungstheoretiker noch ein Impfgegner. Ich glaube nicht, dass der Impfstoff einen Chip von Bill Gates enthält, und ich glaube auch nicht, dass Impfen das Immunsystem irritiert oder Allergien auslöst. Ich bin gegen allerhand geimpft, meine Frau ist es, auch meine Jungs sind es.

 

Aber leider bin ich hypochondrisch. Ich war es eine Zeit lang so sehr, dass ich mich dagegen behandeln lassen musste. Ich habe es heute im Griff, aber eben nicht ganz. Wir Hypochonder denken uns keine Krankheiten aus, um uns ein bisschen interessant zu fühlen. Unsere in der Regel blühende Fantasie gaukelt uns unaufgefordert Krankheitsbilder vor, in denen wir uns bis hin zu depressiven Zuständen verlieren können. Ich hab’s ein paarmal durchgemacht, es war echt herausfordernd. Und Impfung gibt's dagegen definitiv keine.

 

Eigentlich sollte ich mit dieser Veranlagung fast verrückt sein vor Angst, an Covid zu erkranken. Das bin ich aber nicht. Ich wage zu hoffen, dass ich, falls ich angesteckt würde, aufgrund meiner Konstitution die Krankheit gut oder doch einigermassen gut überstehen würde. Und bin ganz einfach froh, wenn ich verschont bleibe, ich möchte die Krankheit nicht haben und vor allem nicht weitergeben.

 

Hypochondrische Angst habe ich vor etwas anderem. Vor dieser Impfung. Obwohl ich annehme, dass seriös geforscht wurde und jetzt seriös geprüft wird. Aber wie gesagt: Neurotiker haben eine blühende Fantasie. Wenn ich lese, dass es sich um eine neuartige, genbasierte Impftechnologie handelt; wenn ich vernehme, dass die Hersteller für allfällige Impfschäden nicht aufkommen wollen; wenn ich höre, dass zum Teil sogar medizinisches Personal und Mitarbeitende von der Prüfbehörde (darunter Leute aus meinem Bekanntenkreis) nicht sonderlich scharf darauf sind, sich möglichst rasch impfen zu lassen; und wenn ich mir schliesslich vor Augen halte, dass es in der Regel vier bis sieben Jahre dauert, eine Impfung zu entwickeln, während die Covid-Impfstoffe innert eines halben Jahres aus dem Boden gestampft wurden, dann – ja, dann werde ich nicht nur nachdenklich, sondern panisch. Dann schlägt der Hypochonder aus und galoppiert wild drauflos.

 

In der Nacht bei geschlossenen Augen sehe ich mich manchmal in der Burgdorfer Markthalle, die zu einem kasernenartigen Impfzentrum umgewandelt wurde, unter polizeilicher Aufsicht mit entblösstem Oberarm Schlange stehen, um den behördlich verordneten Stich zu empfangen. Ich bilde mir dann ein, dass mich die Substanz wegen irgendeiner noch nicht bekannten Nebenwirkung in ein dauerhaftes Delirium befördert, dass ich erlahme, unheilbare Zuckungen bekomme oder etwas in dieser Art. Bei dieser Vorstellung bricht mir der kalte Schweiss aus, und ich hoffe sehnlich, dass die Politiker ihr Versprechen halten und wirklich kein Impfzwang kommt. Das ist irrational, aber ich kann es nicht ändern. Die Vernunft ist nicht immer Siegerin.

 

Es gibt also durchaus Leute, die nicht wegen einer Ideologie oder einer Verschwörungstheorie die Impfung beargwöhnen, sondern aus purer Angst. Sie – ich eingeschlossen – werden wohl noch ein bisschen länger Maske tragen müssen, eine Art Kainsmal, das uns als ungeimpft ausweist. Das nehme ich in Kauf. Und bitte schon jetzt um etwas Nachsicht: Werft nicht mit Steinen auf uns Angsthasen, schon gar nicht mit moralinsauren. Wir brauchen nur einfach ein bisschen mehr Zeit. Irgendwann werden auch wir uns impfen lassen.