Ehre sei Gott an der Decke

Der Künstler besah sich von unten sein Werk, ein gigantisches, wimmelndes Deckengemälde. Monatelang hatte er skizziert, komponiert und gemalt, Menschen in kräftigen Farben, nackt, halbnackt oder in wallende Gewänder gehüllt, weise Frauen, junge Frauen, muskulöse Jünglinge, bärtige Propheten, Himmelswesen und Erdenbewohner. Noch aber war das Werk nicht fertig. Das Wichtigste fehlte noch, und er glaubte bereits nicht mehr, dass er es jemals hinbekommen würde. Frustriert trat er ins Freie, schloss hinter sich die Tür und machte sich einmal mehr auf, um ins Gewühl der Gassen von Rom einzutauchen.

 

Zur selben Zeit schickte sich ein Mann an, an die Pforte des Klosters Sant’Onofrio an der Passeggiata del Gianicolo zu klopfen, wo die Armen Eremiten des Heiligen Hieronymus zu Hause waren. Er war ungefähr 45 – so genau wusste er es selbst nicht –, sah auf den ersten Blick aber aus wie 70. Wer es nicht beim ersten Blick bewenden liess, sah jedoch, dass sein sehniger Körper, seine aufrechte Haltung und sein nach wie vor gesundes Gebiss eher für einen Mann in mittleren Jahren sprachen, obwohl seine Haarmähne und sein langer Bart weiss waren und tiefe Falten sein Patriarchenhaupt durchpflügten.

 

Trotz seiner würdigen Erscheinung war Benedetto ein Nichtswürdiger. In seinem ersten Mannesalter hatte er als Söldner gedient, gefoltert, getötet, gesoffen, geflucht, gespielt und gehurt. Später, noch immer als junger Mann, hatte er sich vermögenden Damen als Gespiele verkauft. Noch später hatte er sich als Dieb, Falschspieler, Raubmörder und Henkersknecht durchs Leben geschlagen.

 

Er kannte nichts als Gewalt, Betrug, List, Verrat, Verbrechen und Sünde. Es gab keines der Zehn Gebote, das er nicht mehrmals übertreten hätte. Dass ihn der Arm des Gesetzes bisher noch nicht ereilt hatte, war unverschämtes Glück. Nun aber hatte er von alledem genug. Er wollte die zehn Jahre, die ihm vielleicht noch blieben, als Eremit im Kloster verbringen und Busse tun.

 

Gerade in dem Augenblick, als Benedetto den Metallring an der Pforte anhob, um zu klopfen, kam von der Gasse her im Geschwindschritt ein kräftiger Mann auf ihn zu. Es war der Künstler. «Moment, Moment», rief er Benedetto zu. Und dann, als er bei dem Sünder angelangt war: «Wunderbar, prächtig! Dich schickt der Himmel, auch wenn du in deinen Lumpen einen erbärmlichen Eindruck machst. Dich habe ich lange gesucht. Prächtig, wunderbar! Hast du etwas dagegen, mir eine Stunde zu schenken und dabei ein paar Scudi zu verdienen? – Nichts Gefährliches oder Verbotenes», fügte er hinzu, als er den fragenden Gesichtsausdruck des anderen sah.

 

So kam es, dass Benedetto dem Maler ins Atelier folgte, das nur ein paar Fussminuten vom Kloster entfernt war. Er musste sich an eines der grossen Fenster setzen und auf dem Hocker möglichst reglos verharren, während der Künstler seinen Kopf von allen Seiten mit raschen Strichen skizzierte. Bereits nach einer halben Stunde war die Sitzung beendet, Benedetto bekam seine Scudi und war entlassen.

 

Noch am selben Tag konnte der Künstler seine Arbeit endlich vollenden. Michelangelo war sein Name, und sein Werk war die prächtige Deckenbemalung der Sixtinischen Kapelle im Vatikan. Sie wäre eigentlich schon längst fertig gewesen, nur Gottes Antlitz hatte dem Maler nicht gelingen wollen. Er brauchte unbedingt ein Modell, eine Inspiration, aber Gottes Angesicht war unter den Menschen nicht zu finden. Bis er durch eine glückliche Fügung einen zerlumpten und hungrigen Strolch sah, der am Tor der Eremiten stand und wohl betteln wollte. So heruntergekommen dieser Mann auch wirkte, sein Gesicht war genau das, das Michelangelo suchte.

 

Alle Welt kennt das Bild an der Decke der Sixtina. Gott ist ein älterer, aber kräftiger Mann mit weisser, wehender Mähne und wallendem Bart. Er kommt im Himmel inmitten seines Hofstaates machtvoll angebraust und berührt mit dem Zeigefinger der weit ausgestreckten rechten Hand den linken Zeigefinger seines Geschöpfs Adam, der durch diese magische Berührung erst zum menschlichen Bewusstsein erwacht. Diesen schöpferischen Akt vollführt seit gut fünfhundert Jahren ausgerechnet Benedetto, der bis zu seinem Eintritt ins Kloster Gott gar nicht gekannt hatte.