Der neue Roman

Ach – wenn ich nur endlich wieder einmal zum Lesen käme! Diesen Seufzer höre ich oft und immer öfter von stressgeplagten Zeitgenossen, die nichts lieber täten, als ein Stündchen die Beine hochzulagern und mit Lust in einem Krimi, einem Thriller oder einem SciFi-Roman zu schmökern. Aber die Zeit, die Zeit… Sie haben dazu keine Zeit.

 

Endlich kommt Abhilfe! Ich habe eine neue Form des Romans entwickelt, die bloss aus acht Sätzen besteht. Eine Art Haiku-Roman. Dass diese acht Sätze die ganze Handlung umreissen, ist weder nötig noch tunlich; im Fragmentarischen liegt bekanntlich ein besonderer Reiz. Wichtig ist bloss, dass der Autor die Stimmung des jeweiligen Genres treffend einfängt und seiner Leserschaft die Möglichkeit bietet, die Geschichte je nach Lust, Zeit und Laune selber zu Ende zu denken. Nachfolgend fünf Beispiele aus meiner neulich gegründeten Romanfabrik.

 

Erstes Beispiel, Kitschroman im Voodoo-Milieu: Im Bann der schwarzen Trommel

Norma, soeben aus einem tiefen, traumlosen Schlaf erwacht, räkelte sich wohlig im Bett. Durch das Ostfenster des herrschaftlichen Gästezimmers schien die sinnliche Sonne Haitis und spielte mit den langen blonden Haaren der jungen Frau. Es klopfte. «Herein», sagte Norma. Die Tür öffnete sich. Im Türrahmen stand Joseph, der schwarze Hausdiener. «Darf ich eintreten, Mademoiselle?», fragte er mit höflich modulierter Stimme, in der versteckte Angst mitschwang. Er hatte vor wenigen Minuten etwas höchst Beunruhigendes entdeckt, worüber er mit Norma sprechen musste.

 

Zweites Beispiel, klassischer Privatdetektiv-Roman: Auf krummer Tour

Und wieder gähnte mir ein hässlicher Morgen entgegen. Ich hatte seit Tagen keinen Auftrag mehr gehabt. In meinen Finanzen klaffte ein grosses Loch, in meiner Moral ein noch grösseres. Da klingelte das Telefon. Ich hob ab. Eine kratzende Frauenstimme meldete sich. «Detektivbüro Baker?», fragte sie. «Richtig geraten», sagte ich.

 

Drittes Beispiel, SciFi: Das Es von En Sgurr

«Huauiii… huauiii…» Die Nixen im Kromlech-Garten duckten sich angstvoll, die Gal-Pferde donnerten mit den Hufen panisch gegen die Boxen. Seit zwei Wochen ertönten im Tal von En Sgurr diese unheimlichen Rufe, jede Nacht zur Stunde des dritten Mondes, und versetzten Mensch, Tier und Sentak in Angst und Schrecken. Niemand wusste, was es war. Ein paar alte Siedler hatten zwar, als die Schreie zum ersten Mal ertönten, hinter vorgehaltener Hand seltsame Andeutungen gemacht. Was sie wussten, blieb jedoch im Dunkeln, denn sie waren vor wenigen Tagen auf unerklärliche Art verschwunden. «Huauiii… huauiii…» Prospektor Hishiro erhob sich und blickte entschlossen in die Runde.

 

Viertes Beispiel, historischer Roman: Das Vermächtnis der Vitalienbrüder

Man schrieb den 21. Oktober des Jahres 1400. Auf dem Grasbrook, der Hinrichtungsstätte, war ganz Hamburg zusammengelaufen, Jung und Alt, Arm und Reich, Schön und Hässlich, Gesund und Verkrüppelt, und wer nicht gehen konnte, liess sich tragen oder schieben: Niemand wollte sich das Spektakel entgehen lassen. Von Nordwest wehte eine feuchte, salzige Brise. Die heiseren Rufe der Krähen verloren sich im Nebel. «Sie kommen!», rief hell eine Bubenstimme. Aus dem niesligen Grau formten sich die Umrisse eines Wagens, von stämmigen Pferden gezogen, von schwer gerüsteten Stadtknechten bewacht. Auf dem Wagen befand sich ein massiver Käfig, worin jener Mann vor den Scharfrichter geführt wurde, dessen Name die hansischen Kauffahrer jahrelang mit Schrecken, die einfachen Leute aber mit unverhohlener Bewunderung im Mund geführt hatten.

 

Fünftes Beispiel, Spionageroman im Umfeld des Kalten Kriegs: Schach in Spandau

«Danke sehr, meine Liebe.» Der General wartete, bis seine Sekretärin das Zimmer verlassen hatte, öffnete das Siegel der Akte, die den Vermerk «Streng geheim» trug, und begann zu lesen. Er brauchte dazu über eine Stunde. Nach dieser Stunde war für ihn nichts mehr so, wie es vordem gewesen war. Er widerstand der Regung, sich einen Scotch einzugiessen. Was er nun am allernötigsten brauchte, war ein klarer Kopf. Besser noch, einen zweiten klaren Kopf. Er drückte auf die Klingel am Schreibtisch.