Handgeschriebenes kann ich oft nur mit Mühe entziffern, mir fehlt dafür das Auge. Ich bewundere Menschen, die auch das krasseste Gekritzel schon im ersten Anlauf flüssig lesen können. Diese Gabe ist besonders wichtig, wenn es darum geht, die Manuskripte von literarischen oder musikalischen Meistern in Gedrucktes umzuwandeln. Es wäre zum Beispiel sehr unschön für den Poeten, wenn es in der gedruckten Form seines Gedichts nicht mehr um «Liebe», sondern um «Hiebe» ginge.
Trotz aller Sorgfalt kommen Fehlinterpretationen manchmal vor. Und manchmal schreiben sie sogar Kulturgeschichte. Wer auch nur im Entferntesten etwas mit klassischer Musik am Hut hat, kennt das romantische und einprägsame Klavierstück «Für Elise» von Ludwig van Beethoven. Heute weiss man zwar, dass es sich um einen Lesefehler handelt – Beethoven schrieb eine fürchterliche Klaue – und das Stück eigentlich «Für Therese» heisst. Aber bis jetzt hat noch kein Musikverleger Lust verspürt, den Irrtum zu korrigieren und den Titel entsprechend zu ändern. Eine unbekannte, geheimnisvolle «Elise» ist ja auch viel spannender als die Kaufmannstochter Therese Malfatti, die sehr wohl bekannt ist als eine der vielen Frauen, denen der leicht entzündliche Maestro sein Herz schenkte.
Ein weiteres Beispiel, diesmal aus der Kunst des Übersetzens: Was, um Himmels willen, ist ein Erlkönig? Ein solches Wesen existiert weder in der Realität noch in der Märchenwelt. Und doch handelt Goethes berühmte Ballade ausdrücklich von ebendiesem Erlkönig. Auch das beruht auf einem Fehler. Goethe kannte den Stoff aus einer Übertragung vom Dänischen ins Deutsche. Dabei wurde der Begriff «Ellerkonge» fälschlicherweise mit «Erlkönig» übersetzt. Richtig wäre «Elfkönig». Die Elfen, jene Wesen, die gemäss volkstümlicher Überlieferung im Verborgenen die Natur bevölkern, sind uns schon viel eher ein Begriff.
Ein sprachlicher Irrtum war besonders folgen- beziehungsweise erfolgreich, er prägte gleich die Spiritualität eines ganzen Kulturkreises: das Dogma von der Jungfrau Maria, der unbefleckten Muttergottes. Wie viele Hymnen sind wohl auf diese «Jungfrau» gedichtet worden, wie viele Mystiker und Asketen haben ihr ihre (in)brünstigsten Gedanken gewidmet, wie viele Prozessionen und Andachten sind in ihrem Namen erfolgt? Die Zahl kennt keine Grenzen.
Zu dumm nur, dass die Jungfräulichkeit, also die glaubensmässig verbriefte Unbeflecktheit der Mutter Jesu, ein Übersetzungsfehler ist. In der hebräischen Textfassung spricht der Prophet Jesaja prosaisch von einer «jungen Frau», die den Messias gebären wird. Griechische Übersetzer machten später aus der jungen Frau in hellenischer Manier eine jungfräulich unberührte Heroenmutter. Wer’s nicht glaubt, darf weiter glauben…
Ich finde solche Fehler, Fehlerchen, Irrtümer und Falschinterpretationen spannend. Sie sind Sinnbilder des Unvollkommenen und Zufälligen, das immer wieder in unser Dasein eingreift. Vermutlich ist unsere Kultur voll von inspirierenden Fehlern. Man sollte einmal systematisch nach ihnen suchen. Wer findet den nächsten?