Die Geister der Vergangenheit

Wir sitzen am Tisch, trinken Kaffee und plaudern. Die 74-jährige Bernerin, der ich gegenübersitze, erzählt von ihrem früheren Leben auf dem eigenen Bauerngut in Südspanien. Von ihrem Biogemüse, dem Markt im Dorf Nijar, der Karfreitagsprozession, dem chronischen Wassermangel in dieser kargen Region und anderem mehr.

 

Im Verlauf unseres angeregten Gesprächs kommen wir mehr oder weniger zufällig auch auf Seltsames und Unerklärliches zu sprechen. Zu diesem Thema könne sie etwas selbst Erlebtes beisteuern, sagt die Frau. Auf dem Hofgelände sei ein kleines, geheimnisvolles, fensterloses Gebäude gestanden, von dem niemand gewusst habe, wie alt es sei und wozu es einmal gedient habe. Irgendwann sei sie neugierig geworden, habe die eingerostete Tür geöffnet und einen Blick ins Innere gewagt. Zu ihrem Erstaunen sei das Häuschen der Eingang zu einem Treppenabgang gewesen. Die Treppe habe hinunter zu einem tunnelartigen Gang geführt. Diesen habe sie nicht weiter erforscht, denn die Sache sei ihr unheimlich vorgekommen.

 

Als sie den Nachbarn von ihrer Entdeckung berichtete, sagten diese, die Region sei Ende des 15. Jahrhunderts die Zufluchtsstätte der letzten Araber in Spanien gewesen. Die Reconquista, die Rückeroberung des muslimischen Königreichs durch die Christen, sei damals schon fast vollendet gewesen. Vermutlich sei der Tunnel ein verborgener Fluchtweg der bedrängten Araber zum nahen Meer gewesen.

 

Jahre nach der Entdeckung des Tunnels kam ein Student zu Gast auf den Bauernhof. Er übernachtete dort und fragte am Morgen darauf die Hausherrin, ob sie wohl traurig sei. Er habe sie in der Nacht weinen gehört. «Nein, ich bin nicht traurig; ich habe gelesen und bin dann zufrieden zu Bett gegangen», antwortete sie. «Seltsam», antwortete der junge Mann. «Ich bin sicher, dass ich eine Frau weinen gehört habe, aber ausser Ihnen kommt niemand in Frage. Dann war es wohl doch Einbildung.»

 

Wenige Wochen später traf ein weiterer Gast ein, ein Ganzheitsmediziner, der in der Nachbarschaft ein Ferienhaus besass. Er liess sich von der Bäuerin den Hof und den Garten zeigen und war an allem rege interessiert. An einer bestimmten Stelle auf dem Gelände hielt er plötzlich inne. «Hier ist etwas, ich spüre eine starke Kraft oder Strahlung», sagte er.

 

Die Erzählerin hält inne, blickt mich schweigend an, um abzuwägen, ob sie es mir anvertrauen dürfe oder nicht. «Sie müssen wissen, dass ich pendle und ebenfalls Strahlen fühlen kann», sagt sie schliesslich. Deshalb habe sie aufgehorcht, als der Arzt seine Wahrnehmung geäussert habe. Genau an derselben Stelle habe ihr Pendel nämlich immer ausgeschlagen wie verrückt.

 

«Ich sagte dies dem Arzt, und er antwortete, dass er nicht nur eine heftige Disharmonie spüre, sondern auch ein inneres Bild sehe – ein Bild des Todes. An dieser Stelle seien Kinder begraben, sagte er bestimmt. Viele ermordete Kinder. Nach diesen Worten erfasste uns beide eine unsägliche Trauer, und wir beschlossen, den Kindern ein letztes Geleit zu geben. Wir legten Blumen nieder und sprachen ein Gebet.»

 

Die Frau blickt zu Boden, will weitersprechen, schafft es aber nicht. Ihre Stimme stockt, sie bricht in Tränen aus, zehn, fünfzehn Jahre nach diesem Erlebnis. Als sie sich wieder gefasst hat, erzählt sie weiter. «Mir ist nach und nach klar geworden, was es mit diesem Kinderfriedhof auf sich hatte. Hier hatten sich vor gut fünfhundert Jahren arabische Frauen auf die Flucht vorbereitet und ihre Kinder umgebracht, damit sie den christlichen Rittern nicht in die Hände fielen. Stellen Sie sich einmal dieses Leid und Elend vor. Das sind Sachen, die sehr lange nachwirken. Deshalb hörte der Student auch eine Frau in der Nacht weinen. Das muss das Schluchzen einer längst verstorbenen Araberin gewesen sein, die einst keinen anderen Ausweg gesehen hatte, als ihr Kind zu töten, um es vor einem Leben in Sklaverei und Schande zu bewahren.»

 

Ich wusste nicht, was ich der Erzählerin entgegnen sollte. Deshalb schwieg ich. Es war das respektvolle Schweigen angesichts einer Geschichte, die einerseits authentisch ist und sich andererseits der Vernunft entzieht. Solche Erfahrungsberichte – sie sind gar nicht einmal so selten – stehen für das, was wir nie begreifen werden, so gescheit wir uns in unserer rationalen Grundeinstellung auch wähnen.