Ein Tag im Frühling. Das knospende Laub der Kastanien, Ahorne und Baumhaseln bricht auf. Die Sonne wärmt die asphaltierten Gehwege. Die Grabsteine stehen in Reih und Glied wie magische Menhire. Manche von ihnen sind über 100-jährig, polierter Granit, Quarz, Marmor, Kalk und Gneis, Jahreszahlen, Namen, Berufe, Doktortitel, politische Würden, graviert in streng klassischen Buchstaben.
Eine junge Frau aus patinierter Bronze sitzt nackt und lebensgross auf einem der Gräber, erstarrt in einer winkenden Gebärde: Verführerin in den Tod. Ein anderes Grab kündet von Max Schneckenburger, dem Dichter des heroischen Liedes «Die Wacht am Rhein», und eine schlanke Stele trägt den ernsten, fast grimmigen Bronzekopf des Kunstmalers Max Buri.
Diese ehrwürdigen Familienmonumente sind grösser als die anderen Gräber und umranden den Friedhof wie steinerne Wächter. Dahinter bildet die immergrüne, mannshohe Buchshecke den Abschluss und schirmt das stille Areal vor dem emsigen Treiben dieser Welt ab.
Ich lustwandle zwischen den Grabreihen, betrachte die Bäume und Sträucher, lese die Namen auf den Steinen, errechne aus den Jahreszahlen die Lebensjahre. Männer und Frauen, manche aus der Mitte des Lebens gerissen, manche alt, manche sehr alt. Ab und zu ein Kind. Wer hatte ein erfülltes Leben, wer trug schwer daran? Sind nicht gerade auch die schweren Leben erfüllte Leben? Mir geht ein Bibelvers aus Psalm 90 durch den Kopf: «Unser Leben währet siebzig Jahre, und wenn’s hoch kommt, so sind’s achtzig Jahre, und wenn’s köstlich gewesen ist, so ist es Mühe und Arbeit gewesen.»
Ich setze mich auf eine Bank neben einer grossen Blutbuche. Ein Teichbrunnen im Stil der 1920er-Jahre plätschert vor sich hin, Vögel zwitschern. Man sagt, dass auf Friedhöfen schlechte Schwingungen wirksam seien, die Disharmonie des Todes. Davon spüre ich nichts. Ich spüre stattdessen Verbundenheit mit jenen, die vor mir in dieser Stadt gelebt und gewirkt haben. Die meisten von ihnen sind gestorben, als ich schon längst auf der Welt war. Viele von ihnen habe ich gekannt, einige flüchtig, andere besser, manche gut. Sie sind noch immer Teil dieser Stadt. Die Toten gehören zu den Lebenden, die Lebenden zu den Toten, eine endlose Kette von Menschen und Generationen, die sich die Hand reichen, zuletzt hier, auf dem Friedhof.
Es ist Frühling. Blumen blühen. Schon bald werden die Rosen ihre rote, weisse und orange Pracht entfalten. Dieser Park ist eine Oase der Ruhe. Die geschäftige Welt bleibt draussen. Es ist so friedlich hier, auf dem Burgdorfer Friedhof.