Das Tor in eine andere Dimension

Das Schloss Burgdorf hoch über der Stadt mit seinem neu gestalteten Museum ist ein starker Publikumsmagnet. Der heimliche König unter all den historischen Schaustücken befindet sich jedoch nicht in den Vitrinen und Wunderkammern, sondern unter freiem Himmel. Es ist der Sodbrunnen im Vorhof des Schlosses, oval gemauert, mit einem massiven Gitter gesichert und beeindruckend tief. Besucher machen sich einen Spass daraus, kleine Kiesel hinunterzuwerfen und die Sekunden zu zählen, bis ein lautes Ploppen den Aufprall auf der Wasseroberfläche anzeigt. Dieses Spiel ist dermassen beliebt, dass man im kleinen Garten des Vorhofs fast keine geeigneten Steinchen mehr findet.

 

Auch ich fütterte den Brunnenschlund immer mal wieder mit ein paar Kieseln. Und dabei geschah einmal eine Unregelmässigkeit, die zwar klein, zugleich aber so sonderbar war, dass sie mich noch heute beschäftigt. Es war an einem stillen, sonnigen Sonntagnachmittag im Juli. Die meisten Leute waren in den Ferien oder im Schwimmbad. Ich befand mich allein im Schlosshof, mit einem halben Dutzend Steinchen in der Hand. Ich warf das erste in den Brunnen und zählte:

 

Eins, zwei, drei, vier, fünf, sechs … Plop! Das zweite Steinchen: Eins, zwei, drei, vier, fünf, sechs … Plop! Das dritte Steinchen: Eins, zwei, drei, vier, fünf, sechs, sieben, acht, neun, zehn … So zählte ich mindestens eine Minute lang weiter, ohne dass das «Plop» ertönt wäre. Kein Zweifel: Das Steinchen war nicht angekommen. Leicht beunruhigt warf ich die restlichen Kiesel, einen nach dem andern, und jeder schlug nach exakt sechs Sekunden unten auf dem Wasser auf. Nur der dritte hatte den Weg nach unten nicht gefunden.

 

Seither sind drei Jahre vergangen. Ist das Steinchen noch immer am Fallen? Bewegt es sich in einer anderen zeitlichen Dimension? Fast bin ich geneigt, dies anzunehmen, denn angeblich soll in einer Höhle unter dem Schlossfelsen einst ein Drache gehaust haben. Drachen aber sind Symbole für tellurische Kraftstrahlen und geheimnisvolle Energiefelder. In ihrem Einflussbereich wird auch Unmögliches möglich. Vielleicht sogar, dass sich eine Sekunde freien Falls zu einer Ewigkeit ausdehnt.

 

Und so werfe ich seither keine Steinchen mehr in den Brunnen. Stattdessen gedenke ich ehrfürchtig des einen Kiesels, der, von mir damals in einem magischen Augenblick geworfen, wohl heute noch durch ein unermessliches Drachenuniversum segelt.