Eine kleine Geschichte der Relativität

In letzter Zeit spukt mir diese Geschichte immer wieder durch den Kopf. Warum, weiss ich nicht. Es war vor 25 Jahren und ich junger Redaktor bei der regionalen Zeitung. Ich hatte Tagesdienst gehabt und wollte demnächst nach Hause. Da verdüsterte sich der Himmel, es blitzte und donnerte, und bald darauf ging ein Wolkenbruch von gotthelfschen Dimensionen über Langnau nieder. Anwesend waren nur noch eine Kollegin und ich. Gebannt blickten wir durch die grossen Fensterscheiben des Redaktionsgebäudes und sahen, wie sich die sprichwörtlichen Sturzbäche vom Himmel ergossen.

 

Zehn Minuten später ertönten die Sirenen der Feuerwehr. Meinen Feierabend konnte ich vergessen. Als sich das Gewitter verzogen hatte, rückte ich zur Recherche aus, meine Kollegin hielt die Stellung auf der Redaktion. Ich sah an einem Hang ein halb abgerutschtes Haus, das evakuiert werden musste, und erhielt vom Feuerwehrkommandanten eine Zusammenfassung der Schäden: Keller waren überschwemmt, beim Spital hatte der angeschwollene Bach Geröll an der Hintertür angehäuft, in zwei Seitengräben waren Strassenpartien unterspült. Auch ein paar Erdrutsche waren zu verzeichnen. Unter dem Eindruck des erlebten Unwetters war ich geneigt, diese punktuell beträchtlichen Schäden mit dem Weltuntergang gleichzusetzen, der Feuerwehrkommandant sah es ähnlich.

 

Die Hauptredaktion in Bern platzierte zu diesem Ereignis auf der Titelseite einen apokalyptischen Bilderbogen, ich steuerte einen ausführlichen Augenzeugenbericht mit vielen dramatischen Details bei. Am nächsten Morgen erfuhr die lesende Welt vom Jahrhundertgewitter im Emmental.

 

Ein paar Tage später traf ich einen Bekannten. Er sprach mich auf meinen Artikel an. «Du hast ja zünftig in die Tasten gegriffen und auch sehr anschaulich geschrieben», sagte er. «Du hast mich aber in die Irre geführt. Ich hatte am Tag nach dem Gewitter geschäftlich im Emmental zu tun. Ich dachte, wenn ich das Auto nehme, komme ich wohl nicht durch, da ist sicher noch alles unter Wasser und verwüstet. Ich nahm das Auto dann doch. Spätestens in Lützelflüh erwartete ich eigentlich die ersten Tannen auf der Strasse, in Zollbrück dann überall Kies und Sand, in Langnau schliesslich lauter verwüstete Häuser, Gärten und Strassen. Ich sah aber nichts von alledem. Es war ein wunderschöner Sommermorgen, die Leute gingen entspannt ihren Tätigkeiten nach, alles war sauber und aufgeräumt, an den Fenstern leuchtete die Geranien. Am Morgen nach einem Jahrhundertgewitter muss es doch im Emmental anders aussehen, oder nicht?»

 

Ich druckste ein bisschen herum. «Nun –ich war halt dort, wo wirklich Schäden entstanden sind, und dort sieht es noch immer himmeltraurig aus», verteidigte ich mich. «Sicher – aber kann man von einem Jahrhundertgewitter sprechen, wenn man über das Ganze betrachtet eigentlich fast gar nichts sieht?», insistierte mein Bekannter. «Ich habe jedenfalls von eurem epochalen Gewitter nichts mitbekommen, und ich bin immerhin fast durch das ganze Emmental von Burgdorf bis Langnau gefahren.»

 

«Kommt halt immer darauf an, wie man es betrachtet», erwiderte ich philosophisch, weil ich keine überzeugende Antwort wusste. Dann verliessen wir dieses Thema. – Das ist also die Geschichte, die mir seit einiger Zeit immer wieder durch den Kopf spukt. Warum, weiss ich nicht. Das heisst: Vielleicht doch.