Ein Hoch auf die Aggression

Gerade denke ich an einen Roman des polnischen Autors Stanislaw Lem. Beziehungsweise an eine Szene, die mir nie mehr aus dem Kopf gegangen ist, seit ich das Buch gelesen habe, und das ist nun wohl an die vierzig Jahre her. Der Protagonist, ein Raumfahrer, kommt nach einer langen interstellaren Reise zurück auf die Erde. Wegen der Zeitdilatation sind seit seinem Aufbruch einige Jahrhunderte vergangen.

 

Der Raumfahrer landet bei seiner Heimkehr in einer Gesellschaft, die mittels einer Droge die Aggression überwunden hat und stattdessen hypersensibel und willenlos geworden ist. Während der Astronaut mit einer Frau aus dieser verschnittenen Gesellschaft spricht, zündet er sich eine Zigarette an und inhaliert den Rauch. Dabei bemerkt er, dass sein Gegenüber angesichts dieser autoaggressiven Genusshandlung entsetzt zusammenzuckt.

 

Seither überlege ich mir immer mal wieder, ob es wirklich erstrebenswert ist, das Prinzip «Aggression» mit Stumpf und Stiel auszumerzen. Wir sind ja schon auf dem besten Weg dazu. Wir – also die mitteleuropäische Musterknaben- und -mädchengesellschaft – sind auf dem Weg, unsere bösen Geister gründlich zu exorzieren. Lieb wollen wir sein, freundlich, nett, hilfsbereit, solidarisch, empathisch, dialogisch, harmonisch, zartfühlend, immer für das Gute zu haben und jederzeit derselben Meinung. Alles, was auch nur den Hauch von Aggression haben könnte, ist gründlich verpönt.

 

Das ist, zumindest aus einer verengten ethischen Sicht, wunderbar. Die Medaille hat aber auch ihre Kehrseite. Im Biotop der aggressionsfreien Weichgespültheit fehlt das Feuer, das es braucht, um neue Ideen zu schmieden. Fehlt der Mut, um neue Horizonte zu erobern. Fehlt die Leidenschaft, um Grenzen zu sprengen. Konstruktive Aggression ist das geistige Blut der Menschheit. Lasst es nicht auslaufen, bitte.

 

Vermutlich sorge ich mich aber ohne Grund. Das abgehobene Ideal und die gelebte Realität klaffen zum Glück merklich auseinander. So gänzlich kastriert und sterilisiert sind wir dann doch noch nicht. Wenn ich mir vergegenwärtige, welch aggressive Meinungs-, Moral- und Ausgrenzungskultur wir in den letzten Jahren aus dem Boden gestampft haben und wie leidenschaftlich wir sie heute pflegen, braucht mir um Fortschritt und Kultur nicht bange zu sein. Weiter so! Oder lieber doch nicht?