Winter war im Mittelalter nicht bloss ein bisschen Nebel ab Dezember und bereits die ersten Vorfrühlingsblumen ab Mitte Januar, wie wir es heute aufgrund der Klimaerwärmung kennen. Einst war der Winter die gefürchtete Jahreszeit, schneereich, eisig, rau, hart, entbehrungsreich, lebensfeindlich, im schlimmsten Fall tödlich.
Wer im Sommer keinen ausreichenden Holzvorrat angelegt hatte, musste im Winter frieren. Kein Lastwagen fuhr vor und lieferte eben mal rasch nach. War die Ernte im Sommer schlecht ausgefallen, drohte im Winter eine Hungersnot. Kein Supermarkt um die Ecke sorgte für Nachschub. Ohne die heutigen Hilfsmittel war die Arbeit draussen knallhart, wenn einem der Atem vor der Nase gefror, die Finger vor Kälte fast brachen und die Zehen giftig schmerzten. Hightech-Thermokleidung gab es damals noch nicht.
Menschen, die den Winter so erlebten, begrüssten den Frühling umso freudiger. Frühling! Diese Jahreszeit ist auch heute noch grandios. Was war sie erst in den alten, harten Zeiten für ein Ereignis, was für ein Fest! Die wärmende Sonne, das spriessende Gras, das knospende Laub, der Gesang der Vögel – die Erlösung von dem Bösen, das Paradies auf Erden.
So empfand es mit Sicherheit auch der Minnesänger Walther von der Vogelweide (ca. 1170 – 1230). Kürzlich habe ich ein Gedicht von ihm gelesen, welches das Frühlingswunder genial auf den Punkt bringt. Ich kenne dieses Gedicht schon seit Jahrzehnten, aber seine vollendete Schönheit ist mir erst jetzt aufgegangen.
Bereits die erste Strophe fängt alles ein, was den Frühling ausmacht: das Grün der Bäume, den Duft von Gras, die Farben der Blumen, Vogelsang und Herzensdrang, und das alles in kurzen neun Zeilen und schlichten Worten. Und dann dieses melodische «tandaradei», das isoliert und bedeutungsvoll auf der achten Zeile schwebt… Das ist das Zauberwort des Frühlings.
Das Gedicht besteht aus vier Strophen. Ich präsentiere hier lediglich die prägnante erste Strophe. Ich habe sie aus dem Mittelhochdeutschen in heutiges Deutsch übertragen, und zwar so, dass das ursprüngliche Reimschema erhalten bleibt. Hierzu waren Umformulierungen nötig, von denen ich hoffe, dass sie die Grundstimmung der Verse nicht zerstören. Eigentlich handelt es sich nicht um eine Übersetzung, sondern um eine freie Nachdichtung. Sie lautet so:
unter den linden
an der heide
wo wir zwei im grase kosen
sind zu finden
auf der weide
blumen schöner noch als rosen.
vor dem wald in einem tal
tandaradei
lieblich singt die nachtigall.