Die Menschen, die auf die Strasse gehen

Wenn Tausende auf die Strasse gehen, während Monaten immer und immer wieder, dann stimmt etwas nicht. Dann sollten bei den Regierenden die selbstkritischen Alarmglocken schrillen. Vor allem, wenn nicht nur Profi-Chaoten und Möchtegern-Anarchisten ihren Unmut bekunden, sondern viele Leute mitten aus der Gesellschaft. So wie jetzt. Es handelt sich nicht ausschliesslich um ein «verbohrtes Grüppchen von Spinnern», wie manche Zeitgenossen behaupten. Es handelt sich um Tausende zumeist honorabler Bürgerinnen und Bürger, und sie haben Tausende von stillen Sympathisanten.

 

Sie sind der Ansicht, dass die Regierung mit dem breiten Einsatz des Gesundheitspasses zu sehr in das öffentliche Leben eingreift. Und sie wollen sich nicht gegen Covid-19 impfen lassen. Manche erachten Impfen generell als widernatürlich. Manchen ist der organisatorische Aufwand zu hoch. Und manche sehen nicht ein, warum sie sich gegen eine Krankheit immunisieren sollten, die in den Medien zwar als neuzeitliche Pest dargestellt wird, im normalen Alltag aber sehr oft deutlich milder verläuft.

 

Doch die allermeisten von ihnen haben einfach mehr Angst vor dieser neuartigen Impfung als vor der Krankheit selber. Sie möchten abwarten, bis zu den genbasierten Impfstoffen Langzeitstudien vorliegen.

 

Nun – theoretisch ist es ihnen erlaubt zu warten, es herrscht offiziell kein Impfzwang. Doch die Politiker, die Arbeitgeber und die impfwillige Mehrheitsgesellschaft bauen mit Kampfrhetorik, Ermahnungen, Schikanen, Nötigungen und Repressalien einen enormen Druck auf.

 

Der grösste Druck kommt aus der moralischen, quasireligiös eingefärbten Ecke: Wer sich nicht impft, ist ein vermaledeiter Ketzer, der das Sakrament aus der Ampulle verschmäht und nicht nur das eigene, sondern auch noch gleich das Körperheil der anderen verspielt.

 

Auch ich bin übrigens der Meinung, dass sich bei uns in der Schweiz durchaus noch ein paar Leute mehr impfen lassen dürften, um so die viel beschworene «Herdenimmunität» zu erreichen und diese Pandemie-Geschichte endlich in den Griff zu bekommen. Zumal wir heute, nach einem Jahr Impfung, sehen, dass die meisten Menschen die Injektion gut vertragen und allfällige Nebenwirkungen in der Regel moderat sind.

 

Aber mit Druck und Überheblichkeit lässt sich die grosse skeptische Minderheit sicher nicht überzeugen. Und schon gar nicht von einer arrogant auftretenden Intelligenzija, die doch sonst jeder noch so kleinen Minderheit grösstes Verständnis entgegenbringt.

 

Menschen, die Angst oder Bedenken haben, brauchen jetzt keine platte Impfpropaganda. Keine gesellschaftliche Ächtung. Keine besserwisserischen Zeitgenossen, die Zögernde stereotyp als Schwurbler, Dummköpfe und Covid-Leugner abqualifizieren. Keine ehemaligen Impfskeptiker, die jetzt, glücklich geimpft und bekehrt, als radikale Impfmissionare unterwegs sind. Keine Zeitungskommentatoren und Fernsehmoderatoren, die sich wie empörte Grossinquisitoren aufführen.

 

Nein – was Unentschlossene und Nichtwillige jetzt brauchen, ist Verständnis, Dialog und ehrliche Information. Und die Gewissheit, dass der persönliche Entscheid respektiert wird, egal, ob er pro oder contra Impfung ausfällt.

 

Vielen, die demonstrieren, geht es aber nur vordergründig um das grenzwertige Covid-Regime und den damit zusammenhängenden indirekten Impfzwang. In Wahrheit geht um etwas viel Grösseres. Sie sorgen sich um die Gesellschaft, die seit Jahren – schon lange vor Covid – unaufhaltsam aus den Fugen gerät.

 

Die aktuellen Proteste sind das Ventil jener, die mit der feinen Intuition des Volkes spüren, dass etwas nicht mehr stimmt. Diese Leute finden es nicht gut, dass nur noch Intellekt, Wissenschaftlichkeit, Rationalität und Urbanität den Ton angeben. Sie lehnen sich dagegen auf, dass einfache Menschen in unserer naturfernen, technokratischen, globalisierten, schnellen, anspruchsvollen und gemütsarmen Welt keinen Platz mehr haben. Sie sind besorgt darüber, dass der Zeitgeist allzu dreist an Traditionen, Überlieferungen, Konventionen, uralten archetypischen Bildern und Vorstellungen rüttelt. Sie ahnen, dass dabei die kollektive Seele in ihren tiefsten Schichten verletzt und die Welt auf den Kopf gestellt wird.

 

Den Leuten auf der Strasse ist die Welt unheimlich geworden. Sie sehen, dass etwas kaputt geht. Darin liegt der wahre Grund der Proteste. Die Covid-Politik des Bundesrates ist bloss der Auslöser, der berühmte Tropfen, der das Fass zum Überlaufen bringt. Der Untergang des Abendlandes, von Oswald Spengler im ersten Viertel des 20. Jahrhunderts scharfsinnig vorausgesagt, ist längst im Gang. Wir können ihn nicht mehr aufhalten. Und die Leute auf der Strasse werden in nächster Zeit nicht weniger, sondern mehr. Darauf würde ich wetten.