Gräben, Höger und Eggen

Das Emmental im schweizerischen Kanton Bern ist nicht einfach ein Flusstal. Es handelt sich vielmehr um ein topografisch komplexes System aus Tälern und Tälchen, kleinen Hochebenen, sanften Hügelkuppen und lang gestreckten Kreten. Die Tälchen heissen im Volksmund Gräben, die Hügel Höger, die Kreten Eggen. Dieses voralpine Gebiet ist geprägt von Grasland, weidenden Kühen, Tannenwald, Bauernsiedlungen und Einzelhöfen. Die Bäche münden alle in die Emme, den namengebenden Hauptfluss der Region.

 

Die Emme ist ein klares, idyllisches, von schönem Auenwald gesäumtes Gewässer. Bei heftigen Unwettern schwillt sie jedoch innert kurzer Zeit zu einem breiten, lehmbraunen und tosenden Ungetüm an, das Baumstämme, dicke Äste und Wurzelstöcke mit sich reisst. «Der Eggiwil-Fuhrmann kommt!», sagen die Leute, wenn die grosse Flutwelle, der sogenannte Anschuss, schäumend angerollt kommt.

 

Der Menschenschlag, der das Land der Eggen und Gräben bevölkert, gilt als kernig, gastfreundlich, zuverlässig und arbeitsam, aber auch als zurückhaltend gegenüber Neuem, unbeholfen im Umgang mit Kritik und unnötig hart zu sich selber. Gearbeitet wird bis zum Umfallen, und zum Arzt geht man erst, wenn man den Kopf unter dem Arm trägt.

 

Längst gehören nicht mehr alle Emmentaler dem Bauernstand an, wie dies noch vor hundert Jahren der Fall war. Nach wie vor prägt das bäuerliche Element aber den Charakter der Menschen, sei man nun Lehrerin, Käsermeister, Pflegefachfrau, Steuerberater, Sekretärin, Fabrikant, Künstlerin oder tatsächlich Landwirt: Man kennt und liebt die Natur, schöpft aus den Kraftquellen des einfachen Volkes und duldet keine überhasteten Entscheide.

Man spricht einen breiten Dialekt und duzt sich, wann immer es statthaft ist, gleich von Anfang an. Gegenüber der Kantonshauptstadt Bern wahrt man eine misstrauische Distanz, jedenfalls auf politischer Ebene; noch immer scheinen die Wunden des Bauernkriegs von 1653 nicht ganz verheilt zu sein.

 

Einen hohen Stellenwert geniesst im Emmental die Volkskultur. Einen Jodlerchor und eine Trachtengruppe gibt es in jedem Dorf, und die sommerlichen Alpfeste, die sogenannten Chilbis, erfreuen sich grossen Zulaufs. Beliebt sind auch die Bauernmärkte, die in Langnau regelmässig stattfinden. Die Schwinger – so heissen die volkstümlichen Ringer – geniessen hohes Ansehen, und die Hornusser gehören zum Landschaftsbild wie die behäbigen Bauernhäuser und die grossen Obstgärten.

 

Sie wissen nicht, was Hornussen ist? Nun – das ist der emmentalische Volkssport schlechthin. Dabei gilt es, mittels einer elastischen Rute eine kleine Gummischeibe – den Nouss – möglichst weit ins Grasfeld zu schleudern, während die gegnerische Mannschaft versucht, den Flug des Projektils mit grossen, ruderartigen Holzkellen zu stoppen. Freundliche Spötter nennen diese Betätigung Bauerntennis oder Stratosphärenpingpong.

 

Zwei Hauptorte hat die Region. Burgdorf, das stolze Zähringerstädtchen mit der trutzigen Burg und der grossen Kirche, bildet das Zentrum des unteren Emmentals, während das einstige Käsehandels- und Tuchweberdorf Langnau die Metropole des oberen Emmentals ist. Die Burgdorfer lieben die Langnauer ihrer Bodenständigkeit wegen, doch die Langnauer taxieren die Burgdorfer verächtlich als Möchtegern-Emmentaler und hochnäsige Herren.

 

Beiden Teilregionen gemeinsam ist aber der Stolz auf Jeremias Gotthelf, den Dichterpfarrer, der in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts im Dorf Lützelflüh wirkte und mit seinen Bauernromanen in die Weltliteratur einging, und stolz ist man ebenso auf Micheli Schüppach, den legendären Wunderdoktor des 18. Jahrhunderts. Sogar Johann Wolfgang Goethe besuchte ihn seinerzeit in Langnau.

 

Wer ausserhalb der Schweiz Jeremias Gotthelf und Micheli Schüppach nicht kennen sollte, kennt dafür bestimmt den berühmten Emmentaler Käse. Den kräftigen, leicht nussigen Geschmack des löchrigen Hartkäses schätzt man in Italien, Deutschland und England ebenso wie in Russland und Amerika. Liebe geht durch den Magen – und so erstaunt es weiter nicht, dass die Emmentaler ihren Käse zum Botschafter ihrer kleinen Region in der grossen Welt erkoren haben.