Die Kastanientaufe

Früher waren dort noch Autos parkiert, und der Platz hiess noch «Graben». Das war ein kurzer, ein praktischer Name, überliefert seit Generationen, und bezog sich auf die alte Verteidigungsanlage der Stadt.

 

Dann aber tauften die Burgdorfer den Graben um; jetzt trägt er den Namen «Brüder-Schell-Terrasse». Diese historisch bedeutsamen Brüder hissten im Jahr 1830 vor ihrem Wohnsitz, dem Inneren Sommerhaus in Burgdorf, die Trikolore. Damit taten sie kund, dass sie mit der Pariser Julirevolution ganz und gar einverstanden waren. Später machten sie sich auch anderweitig um die Verbreitung und Durchsetzung liberalen Gedankenguts im Staat Bern verdient.

 

Solche Pioniere muss man ehren, dachten die Burgdorfer anderthalb Jahrhunderte später und gaben, wie bereits erwähnt, dem Grabenplatz den Namen der umstürzlerischen Brüder Schnell. Autos werden dort seither nicht mehr abgestellt.

 

Die Brüder-Schnell-Terrasse ist eine magische Stätte, der Ort, an dem allherbstlich verschiedene Leute aus Burgdorf die Kastanientaufe empfangen und somit erst zu richtigen Bürgern der Emmestadt werden.

 

Mit der Kastanientaufe hat es folgende Bewandtnis. Auf der Brüder-Schnell-Terrasse stehen zehn alte, knorrige Kastanienbäume, die allerdings trotz ihres Greisenalters noch fleissig blühen und Kastanien produzieren. Im späten September und frühen Oktober hagelt es unter diesen ehrwürdigen Bäumen tonnenweise Kastanien. Die ölig glänzenden Kugeln, manche noch verpackt in ihrer grünen Stachelhülle, sausen zu Boden nieder wie einst die Morgensterne der alten Eidgenossen auf die Schädel ihrer Feinde.

Somit ist es lebensgefährlich, im Herbst unter den Kastanienbäumen der Brüder-Schnell-Terrasse zu wandeln, aber die Burgdorfer tun’s trotzdem. Ab und zu passiert es dabei, dass eine Kastanie nicht zu Boden, sondern auf den Kopf eines wandelnden Burgdorfers fällt. Von der ungeheuren Wucht des Schlages niedergestreckt, bleibt der Getroffene eine Zeit lang bewusstlos liegen.

 

Manche überleben den Schlag nicht; ihre sterbliche Hülle wird von der Stadtgärtnerei diskret abtransportiert. Wer aber überlebt, erhebt sich als neuer Mensch. Ihm öffnet sich das Dritte Auge, und fortan sieht er die Welt anders, tiefer. Erst jetzt ermisst er, was es bedeutet, ein Burgdorfer zu sein. Er trägt den Kopf hoch und mehr den Ruhm seiner Stadt nach Kräften.

 

Dies also ist die Kastanientaufe.