Der versteinerte Kopf

Einige von euch haben sicher schon vom Philadelphia-Experiment gelesen. Während des Zweiten Weltkriegs liessen die Amerikaner in Philadelphia angeblich ein Kriegsschiff verschwinden und in Sekundenschnelle an einem 500 Kilometer entfernten Ort geisterhaft wieder auftauchen. Der Spuk dauerte einen kurzen Augenblick, dann wurde das Schiff in seinem Heimathafen wieder zu Materie.

 

Mit katastrophalen Folgen für die Mannschaft: Einige verschmolzen mit dem Schiff, einige erlitten Verbrennungen, einige lösten sich in Luft auf – so weit die Legende.

 

Nun aber vernehmt, ihr Leute von nah und fern: Im Mittelalter hat es so etwas wie ein Philadelphia-Experiment bereits einmal gegeben! Das war in Burgdorf, der hochberühmten Stadt an der Emme.

 

Der Zunftmeister der Schmiede und Zimmerleute hatte von wem auch immer – einem fahrenden Scholaren vielleicht, einem Sarazenen, einem Alchemisten, einem zauberkundigen Venediger – eine Anleitung erhalten, wie man auch die dicksten Mauern für kurze Zeit durchlässig machen konnte, als wären sie nichts weiter als Spinnweben.

 

Klar, dass diese Kunst in jenen Zeiten sehr nützlich war: Wer Mauern aufweichen konnte, war in der Lage, jede Stadt und jede Burg einzunehmen, ohne auch nur den kleinsten Rammbock und die kleinste Wurfmaschine einzusetzen.

 

Um herauszufinden, ob die Anleitung etwas taugte, ordnete der Zunftmeister einen Versuch an. Die Schmiede und Zimmerleute bauten einen grossen Apparat aus Spiegeln, Windsäcken, Zahnrädern, Pfeilern und Achsen, den sie zu Johanni, zur Zeit des Sonnenhöchststands, im Kirchhof in Position brachten und auf das Zunfthaus ausrichteten.

 

Sobald der chymische Prozess vollzogen sein und die Transmutationskraft die Mauer aufgeweicht haben würde, wollte der Zunftmeister vom Innern des Hauses mitten durch die dicke Sandsteinmauer den Kopf ins Freie strecken, den anderen zuwinken und sich rechtzeitig wieder ins Haus zurückziehen.

 

Die Sonne nahm ihren Lauf und brannte vom Himmel, die Spiegel und Linsen des Apparats verstärkten das Licht, die in den Boden gerammten Pfeiler nahmen Erd- und Wasserkraft auf, die Windsäcke füllten sich, der Apparat vibrierte und summte…

 

Da! Wie von Zauberhand schob der Zunftmeister seinen Kopf durch die Mauer, als sei sie bloss ein Vorhang aus Luft. Justament in diesem Moment entwich dem Schmied, der den Hauptspiegel des Apparats lenkte, unversehens ein Rülpser von solcher Bassgewalt, dass es ihn tüchtig durchrüttelte und der Spiegel ausser Kontrolle geriet.

 

Der Schmied korrigierte das Missgeschick rasch, aber es war schon zu spät: Die Mauer verfestigte sich wieder, und der Zunftmeister blieb in der Mauer stecken. Schlagartig wurde sein Kopf zu Stein und blickte starr hinüber zum Kirchhof.

 

«Du dummer Esel, warum musstest du ausgerechnet jetzt so saumässig rotten», bellte ein Zimmermann den Schmied an. «Sie doch nur, was du mit deinem stinkenden Maulfurz angerichtet hast, du Grunzsack!»

 

«Nun mach mal halblang, Kamerad», gab der andere recht gemütlich zurück. «Was kann ich denn dafür, wenn ich vor einer Stunde Blähgemüse genossen habe, das mir nun aufstösst? Ist dir denn noch nie ein Leibesdunst entwichen in deinem ganzen Leben, weder oben noch unten? Du wirst mir doch nicht einen Strick daraus drehen wollen, dass mir soeben etwas Menschliches widerfahren ist. Oder willst du das? Willst du das wirklich?»

 

Der Zimmermann kratzte sich am Schädel. «Magst ja recht haben, Metallhämmerer», lenkte er ein. «Man soll nicht mit Steinen werfen, wenn man… Na ja, wenn man selber nicht frei ist von Schuld. Vergessen wir’s einfach.»

 

Zur Bekräftigung schnäuzte er sich derb und ohne Taschentuch. In hohem Bogen schoss der Rotz über die enge Gasse hinüber zur Hausfassade und traf den Zunftmeister am rechten Auge. Aber diesen kümmerte es nicht. Versteinert starrte er aus der Mauer – und wenn er noch nicht ausgestarrt hat, so starrt er noch heute.