Auf Stippvisite beim Beatles-Guru

Wir sind unterwegs auf einer kleinen Wanderung von Emmetten auf die Rütli-Wiese. Soeben haben wir von Süden her das Urner Bergdorf Seelisberg erreicht. Zwischen alten Parkbäumen leuchtet eine grosse weisse Kuppel hervor, die majestätisch aufragt und ein wenig an den Taj Mahal erinnert. Es handelt sich allerdings nicht um ein indisches Bauwerk, sondern um den markanten Eingangsbau des 1875 erbauten Hotels Sonnenberg.

 

Und doch drängt sich ein Vergleich mit Indien geradezu auf: 1972 machte der indische Gelehrte und spirituelle Führer Maharishi Mahesh Yogi das Hotel nämlich zum Weltzentrum einer von ihm ins Leben gerufenen Meditationsbewegung.

 

Noch heute befindet sich der historische Bau im Besitz einer Stiftung, die das Erbe des 2008 verstorbenen Meditationsmeisters verwaltet. Maharishi Mahesh Yogi war nicht zuletzt deshalb so berühmt, weil sich auch Popstars wie die Beatles, die Beach Boys und Donovan von ihm in die Kunst der Innenschau einführen liessen.

 

Die Neugier ist geweckt

Nun stehen meine Familie und ich vor dem alten Grandhotel. Noch heute werden hier Meditationskurse durchgeführt. Unsere neugierigen Blicke durch die Glasfront des Eingangsbereichs erspähen Bilder und Plakate, die einen Hauch von indischer Mystik verströmen. Das Ganze wirkt recht exklusiv. Ob man wenigstens rasch die Lobby betreten und sich ein bisschen umsehen darf?

 

«Wollen Sie hinein?» Wir wenden uns um. In der prallen Sonne steht ein freundlich lächelnder älterer Herr in einem weissen, über die helle Hose fallenden Hemd; dazu trägt er einen ebenfalls hellen Kittel. «Ja, aber nur auf einen kurzen Moment», antworte ich. «Dann zeige ich Ihnen den grossen Saal», sagt der Mann. «Was gibt es denn dort zu sehen?», frage ich. Der Mann schmunzelt. «Etwas, das Sie noch nie gesehen haben», verheisst er in breitem Innerschweizer Dialekt.

 

Der Mann – er wird sich später als Leiter des Zentrums vorstellen, wohnhaft in Stans, seinerzeit mit Maharishi persönlich bekannt – öffnet die Tür und lädt uns zum Eintreten ein. Im dämmerigen Entree schwebt ein Aroma, das sich aus altem Herbergsdunst, Weihrauch und Patchouli eigentümlich mischt.

 

«Wir müssen still sein, im Raum nebenan findet gerade ein Meditationskurs statt», sagt unser Cicerone und führt uns über den roten Plüschteppich, der jeden Schritt in ein kleines Schweben verwandelt, und eine feierlich wirkende Treppe hinauf ins erste Obergeschoss.

 

Blick auf das Allerheiligste

Was wir hier sehen, ist in der Tat beeindruckend. Wir treten in einen grossen und hohen Saal ein, den ehemaligen Speisesaal des Hotels. Maharishi und seine Getreuen liessen ihn zu einem Konferenzsaal umbauen. Eine Tribüne mit Schreibflächen und bequem gepolsterten Stühlen umfasst in einem leichten Bogen das Herzstück des Saals: ein mit einem Teppich ausgelegtes Podest, das ein wenig an den heiligen Bezirk eines Tempels erinnert. Auf dem Podest steht ein gelblicher Sessel, daran angelehnt ein grosses Foto, das den Guru zeigt, weissbärtig und mit einem festlichen Blumenkranz um den Hals.

 

Hinter dem Thron des Meisters wallen in kunstvollen Falten helle Vorhänge zu Boden, zuoberst an den Wänden reihen sich die Flaggen aller Nationen der Welt, und ein schmaler Fries mit indischen Ornamenten vervollständigt das weltläufig-exotische Ambiente des Saals. Dies also ist der Ort, an dem der berühmte Beatles-Guru residierte und 1975 das Zeitalter der Meditation ausrief.

 

Unser Gastgeber, der freundliche Herr aus Stans, führt uns kurz in die Geschichte des Saals ein, umreisst in knappen Worten, dass es bei der Transzendentalen Meditation um die konzentrierte Innenreise zum Urquell des Denkens gehe, zwecks geistiger Reifung und Stärkung, und überlässt und dann allein unseren Eindrücken, weil unten in der Lobby jemand auf ihn wartet.

 

Bevor er uns verlässt, drückt er auf den Knopf eines kleinen CD-Players; das melancholische Seufzen einer indischen Flöte ertönt, begleitet von Sitar-Klängen. «Schalten Sie einfach aus, wenn Sie den Saal verlassen. Ich wünsche Ihnen noch einen schönen Tag.»

 

Die Frage nach der Echtheit

Eine Viertelstunde später stehen wir wieder draussen im Sonnenlicht und nehmen den Weg aufs Rütli unter die Füsse. Gedanken über das soeben Erlebte gehen mir durch den Kopf. Nicht weit von hier hatte im 15. Jahrhundert ein anderer Meister der Spiritualität seinen Sitz: Bruder Klaus, der grosse Mystiker von Flüeli-Ranft. War sein Bruder im Geist, Maharishi Mahesh Yogi, auch ein grosser Mystiker? Oder eher ein begabter Selbstvermarkter, wie seine Gegner behaupteten und noch immer behaupten?

 

Der Meister aus Indien konnte beim Meditieren angeblich schweben, was allerdings kaum jemand ernstlich für wahr zu halten bereit ist. Manche sind jedoch geneigt zu glauben, dass der andere, der Eremit von Flüeli-Ranft, tatsächlich jahrelang streng fastete, wie seine Vita berichtet, und dabei nicht verhungerte.

 

Was unterscheidet einen echten von einem unechten spirituellen Meister? Wo endet die biografische Wahrheit, wo beginnt die ikonografische Legendenbildung? Muss ein Heiliger unfehlbar sein, oder macht gerade das Menschliche den Heiligen aus?

 

Fragen über Fragen – und zum Tannenduft des Rütli-Wegs gesellt sich immer noch ein leichter Hauch des Patchouli-Dufts, der in der Eingangshalle des Hotels so exotisch meine Nase stimulierte.