Die Sehnsucht nach dem Heiligen Krawall

Jüngst las ich in meiner Tageszeitung einen Bericht über das Needle-Spiking. Bei diesem Phänomen, das sich gerade flächenbrandartig auszubreiten scheint, werden junge Frauen an Partys oder Konzerten von unsichtbaren Unbekannten mit einer Nadel gestochen, oder sie haben das Gefühl, gestochen zu werden. Injiziert wird dabei offenbar nichts, zum Glück.

 

Der von der Zeitung interviewte Psychologe gebrauchte im Verlauf des Gesprächs unter anderem die Begriffe «soziale Panik», «öffentliche Erregung», «irrationale Euphorie», «Suggestionen», «Hysterie».

 

Bei diesen Wörtern kamen mir als hysterisch – pardon – historisch interessiertem Menschen sofort Massenphänomene aus früheren Zeiten in den Sinn. Im Mittelalter fielen ganze Ortschaften in Ekstase, wenn die Menschen hörten, dass sich die Marienstatue in der Dorfkirche ganz von selbst bewegt oder eine Hostie zu bluten begonnen habe.

 

In manchen Landstrichen griff die Tanzwut um sich, aus Gründen, die bis heute nicht restlos geklärt sind, und der junge fränkische Volksprediger Hans Böhm, der Marienvisionen hatte, scharte im Sommer 1476 innert dreier Monate 70'000 Anhänger um sich.

 

Noch im Jahr 1920 sorgte Friedrich Muck-Lamberty in Deutschland für Aufsehen mit einer Tanzbewegung: Seine naturmystische und lebensreformerische «Neue Schar», den späteren Hippies sehr ähnlich, zog im Fränkischen und Thüringischen singend, tanzend und predigend von Ort zu Ort und feierte in den Städten und Dörfern, zum Teil unter dem Mittun der Einheimischen und sogar der Behörden, wahre Tanzorgien.

 

All diesen Massenphänomenen – auch den aktuellen – gemeinsam ist, dass sie die Sehnsucht nach Transzendenz zu befriedigen versuchen. Es geht somit um das vitale Bedürfnis, die in gesellschaftlichen Konventionen und persönlichen Zwängen gefangene Seele zu befreien, indem man sie mit etwas vereint, das weit über das eigene begrenzte Sein hinausgeht.

 

Erprobte Mittel, im Kollektiv Transzendenz zu schaffen, waren einst ekstatische Tänze, inbrünstige Gesänge und dionysischer Jubel angesichts eines wie auch immer gearteten religiösen Wunders. Auch eine zündende spirituelle Botschaft konnte diese Wirkung entfalten.

 

Das war authentische, kraftvolle, wirkungsmächtige Religion. Und das war gestern. Heute ist es eine durch Needle-Spiking erzeugte soziale Panik. Oder das in Gesinnungsblasen praktizierte, moralisch aufgeheizte Herziehen über Menschen mit anderer Meinung oder Weltsicht. Dabei besteht das Ziel meist nicht darin, den Gegner argumentativ dazu zu bringen, seine Meinung zu überdenken. Sondern darin, ihn zu stigmatisieren und wenn möglich gesellschaftlich und beruflich zu vernichten. Das ist Ersatzreligion mit Rückgriff auf archaische Rituale: Unter dem modernen Gewand zeichnen sich die Züge eines urtümlichen, gemeinschaftlich praktizierten Menschenopfers überdeutlich ab.

 

Überhaupt wird heute alles unternommen, um die pseudospirituelle Erregungskurve möglichst im hohen Bereich zu halten, zum Zweck, das Fehlen echter Spiritualität zu kompensieren. Gefragt wäre bei der Bewältigung von gesellschaftlichen und politischen Problemen eigentlich der aufgeklärt nüchterne Diskurs. An seine Stelle tritt nun immer öfter die kollektive und medial verstärkte Aufregung bis hin zur Weissglut: die Aufregungsgesellschaft als säkulare Religionsgemeinschaft.