Jetzt habt ihr euren Mord

Das Tagwerk ist getan. Als diensthabender Redaktor habe ich so einiges geleistet heute, habe redigiert, recherchiert, geschrieben, gelayoutet, Titel gesetzt, die fertigen Seiten revidiert, die Anrisse für die Frontseite verfasst, die Schlagzeilen für den Aushang getextet und mich ordnungsgemäss beim Nachrichtenchef abgemeldet.

 

Es ist still geworden auf der Redaktion. Die anderen sind nach Hause gegangen. Eigentlich könnte ich auch gehen. Einer Laune gehorchend, beschliesse ich aber, den restlichen Redigierstoff auch noch gleich zu erledigen. Den spare ich normalerweise für den nächsten Tag auf; heute will ich aber reinen Tisch haben, wenn ich nach Hause gehe.

 

Die Zeit vergeht. Langsam wird es Nacht. Nun bin ich mit meiner Arbeit fertig. Endlich. Ein gutes Gefühl. Eben will ich nach der Computermaus greifen, um die Mühle herunterzufahren, als sich die Tür mit einem dramatischen Knall öffnet. Jemand tritt schwer schnaufend ein.

Die Person wittert, hört sich um.

 

«Hallo, ist noch jemand da?» Es ist Roger, unser Aussendienstler von der Marketingabteilung. «Ja, ich bin noch hier», antworte ich misstrauisch. Dieser Auftritt hat sicher nichts Gutes zu bedeuten. Roger schiebt sich heran. Sein massiger Oberkörper im bunten, weit geöffneten Hemd erscheint über dem Tresen, der meinen Arbeitsplatz vom übrigen Büro abtrennt. Biergeruch breitet sich aus.

 

«Mord!», trompetet Roger mit vor Aufregung rauer Stimme. «Mord! Jetzt habt ihr euren Mord. Ich war vorhin im Restaurant Bahnhof, und da hat mir der Wirt erzählt, dass die Polizei vor einer halben Stunde Metzger Strahms Gehilfen abgeführt hat, du weisst schon, den Kanadier. Er lärmte stockbesoffen in seiner Junggesellenbude im zweiten Stock herum, nackt, und unten vor dem Haus lag, aus dem zweiten Stock zu Tode gestürzt und ebenfalls nackt, ein unbekannter 18-Jähriger.»

 

Roger holt kurz Luft und rapportiert weiter: «Man hat die beiden vor knapp zwei Stunden noch im ‹Wilden Hund› gesehen. Ich sage ja immer, dass das eine Schmuddelbar ist. Ja, und jetzt geht man davon aus, dass der Metzgergehilfe den Jüngling aus dem Fenster geworfen hat. Vielleicht wollte der bei den Schweinereien, die ihm der Kanadier vorgeschlagen hat, nicht mitmachen, was weiss ich. Es ist jetzt an dir, das herauszufinden. Mord, und das erst noch im Schwulenmilieu! So. Ich habe meine Pflicht getan, ich gehe jetzt wieder in den ‹Bahnhof›. Schönen Abend noch, und mach’s gut.»

 

Geräuschvoll und mit wehender Bierfahne zieht Roger ab. Bumm. Nichts von Feierabend. Das muss natürlich noch heute in die Zeitung, für die morgige Ausgabe, gross, auf die letzte Seite. Warum bin ich bloss nicht früher nach Hause gegangen? SCHEISSE. So ein Drama passiert in diesem Städtchen nur alle fünfzig Jahre. SENSATION!

 

Ich erhebe mich, gehe im Kreis herum, zuerst langsam, dann immer schneller. In meinem Kopf dreht sich ebenfalls alles. Den freien Abend kann ich mir einmal mehr in den Kamin schreiben. Einen Fotografen aufbieten, telefonieren, recherchieren, verhandeln, Schauplätze aufsuchen, mit Augenzeugen, Nachbarn, dem Pressesprecher der Polizei und einem Psychologen reden, dann schreiben. GEIL.

 

Ich trete auf den Balkon, hebe die Arme in die Höhe und brülle, so laut ich nur kann: «Mord, Mord! Jetzt haben wir endlich wieder einmal einen Mord, ihr lieben Leute! Lesen Sie morgen alles im BLATT! Mord, Mord!»

 

Ein Mord ist das befriedigendste Ende, das sich für einen arbeitsreichen Tag im Leben eines Journalisten überhaupt denken lässt.