Beethovens Schwanengesang

Ludwig van Beethoven – ein im wahrsten Sinn des Wortes klangvoller Name, der für universale Sinfonien, tiefgängige Kammermusik und grandiose Klavierkompositionen steht. Neulich fragte ich mich, welches seiner Werke denn eigentlich sein letztes ist. Eine Sonate? Ein Streichquartett? Die unvollendete Zehnte?

 

Nichts von alledem. Sondern ein Rätselkanon, bei dem die Ausführenden selber herausfinden müssen, wo die zweite Stimme einsetzt. Diese eigenwillige Gesangsphrase, bestehend aus bloss dreizehn Noten, ist eine Vertonung der Worte «Wir irren allesamt, nur jeder irret anders». Als ich diese Miniatur zum ersten Mal hörte, war ich fasziniert – und bin es immer noch.

 

Es handelt sich nicht um eine Melodie der konventionellen, mundgerechten Art. Sondern um eine feierlich schleppende Litanei, archaisch, geheimnisvoll, dunkel und mystisch, wie eine im herbstlichen Nebel schwimmende Landschaft. Sie passt wunderbar zum melancholischen und zugleich gelassen loslassenden Text.

 

Dieser Kanon ist der letzte Gruss eines Meisters, der im Lauf seines Künstlerlebens eine staunenswerte Entwicklung durchlebte und zuletzt in ganz eigene, geradezu modern anmutende Sphären ab- und eintauchte.

 

«Wir irren allesamt» entstand Anfang Dezember 1826, als Beethoven, schwer erkrankt, einen Freund schriftlich bat, ihn zu besuchen. Unter den Brief setzte er den Kanon mit besagter Verszeile; sie stammt aus einem Gedicht des Schweizer Universalgelehrten Albrecht von Haller. Was wollte Beethoven damit sagen? Das erschliesst sich aus dem Brief nicht.

 

Vielleicht ahnte der Komponist, dass er sich von seiner Krankheit nicht mehr erholen würde, und wollte eine Art letztes Bekenntnis ablegen, analog zum Reformator Martin Luther, der kurz vor seinem Tod 1546 die Notiz niederschrieb: «Wir sind Bettler, das ist wahr.»

 

In ihrer gerafften Kürze, inhaltlichen Vieldeutigkeit und schwebenden Transzendenz erinnert Beethovens letzte Komposition an ein japanisches Haiku. Die alten Meister dieser Gedichtform verstanden es, mit bloss siebzehn Silben magische Momente des Lebens ins Nichts hineinzuzaubern – kleine, kostbare Zeugnisse von Schöpferkraft und Vergänglichkeit. Beethoven brauchte dazu nur dreizehn Silben und dreizehn Noten.

 

Kanon