Die Februarsonne scheint vorfrühlingshaft milde. Das Schmelzwasser löst sich vom Schnee, tropft von den Bäumen, rinnt den steilen Weg hinunter, versickert in der Erde. Winterlinge fangen in ihren leuchtend gelben Bechern das Licht ein, erste Bienen kommen angesummt. Ein grosses Lächeln liegt über dem Land. Es ist Vorfrühling.
Und nicht nur das. Es ist Vorfrühling an einem speziellen Tag. Es ist der Tag, an dem sich der Vorfrühling in seiner reinsten Form zeigt, mit allem, was einen Tag des Erwachens auszeichnet: kraftvoll, belebend, inspirierend, hoffnungsvoll stimmend. Es ist der magische Vorfrühlingstag.
Später im Mai. Über Nacht hat das Buchenlaub die Hüllen gesprengt. Der Wald zeigt sich grün überhaucht, noch sind die Blätter nicht voll entfaltet. In den Obstgärten blühen die Apfelbäume. Die Erde der Äcker und Gärten saugt sich mit Wärme voll. In der Luft liegt ein balsamischer Duft von blühenden Sträuchern aller Art. Am Horizont braut sich das erste Gewitter des Jahres zusammen. Schon ist leises Donnergrollen zu vernehmen. Es ist Hochfrühling. Es ist Hochfrühling am Tag der Tage – am magischen Hochfrühlingstag, den es jedes Jahr nur genau einmal gibt.
Später im September. Die Hitze des Sommers hat sich zu einer sanften Wärme gewandelt. Im Wald ist es still. Ein Teil der Zugvögel ist bereits unterwegs in südliche Gefilde. Noch steht die Taubnessel in violetter Blüte, noch sind die Blätter der Bäume saftig und grün. Von der Sonne behutsam geröstet fallen die Buchennüsschen zu Boden. Auch Eicheln regnet es, Tropfen für Tropfen. Es ist die Zeit der Reife. Es ist die Zeit der Vollendung, die gleitend in die Zeit der Ernte übergeht. Es ist der magische Frühherbsttag, wie es ihn nur einmal im Jahr gibt.
Jede Jahreszeit hat ihren magischen Tag. Den einzigen und ganz besonderen Tag, an dem alles so ist, wie es die Natur für die betreffende Jahreszeit vorsieht. Die Urform des Frühlingserwachens, der Sommerkraft, der Herbstreife, der Winterruhe. Dieser Tag kommt, wann er will. Der Wetterbericht sagt ihn nicht voraus, auch vom Thermometer und Barometer kann man ihn nicht ablesen.
Um ihm zu begegnen, muss man hinausgehen in die Natur. Nur dort lässt er sich aufspüren, erspüren, erleben. Die lateinische Sentenz «carpe diem» heisst genau genommen nicht «geniesse den Tag», sondern «pflücke den Tag».
Ja, lasst uns die magischen Tage pflücken. Sie sind die geheimnisvolle Essenz des Jahreslaufs, aber auch unseres Eingebundenseins in die Natur. Wer diese Tage verpasst, verpasst das halbe Leben. Vielleicht sogar das ganze.