Das war knapp

Warum ich diese Geschichte gerade jetzt erzähle? Vermutlich, weil ich älter werde und meine Erinnerungen an Bedeutung gewinnen. Zum Beispiel die Erinnerung an meine Urgrossmutter. In der Episode, die mir gerade durch den Kopf geht, spielt sie die Hauptrolle.

 

Ich hatte das Glück, meine Urgrossmutter erleben zu dürfen, bis ich acht oder neun Jahre alt war. Sie repräsentierte den Archetypus einer Urgrossmutter, bedächtig, gütig, klug, mit schlohweissem Haar, das ihr Gesicht wie eine Gloriole umgab, einer freundlichen Stimme und einem heiteren, gelassenen Lächeln.

 

Und sehr viel Lebenserfahrung. Als junges Mädchen hatte sie sich mit dem Sohn einer begüterten Burgdorfer Familie eingelassen, von dieser Liaison wurde sie schwanger. Das galt damals, in der Ära um 1900 herum, noch als ausgesprochene Schande. Er hätte sie zwar heiraten und die Angelegenheit auf diese Weise ehrenhaft bereinigen können, doch eine Verbindung zwischen einem Junior-Grossbürger und einer Tochter aus sehr bescheidenem Hause war undenkbar.

 

So wurde die junge Mutter nach ihrer Niederkunft genötigt, die kleine Stadt zu verlassen und in der Fremde ihr Auskommen zu suchen. Das uneheliche Kind, ein Mädchen, liess sie bei ihren Eltern zurück.

 

Die Verbannte verschlug es zuerst in das Reich des zwirbelbärtigen deutschen Kaisers Willem Zwo, wo sie sich in gehobenen Haushalten als Zimmermädchen verdingte. Später zog sie weiter nach Frankreich. Hier heiratete sie, und aus dem Schweizer Fräulein Rosa B. wurde die Wahlfranzösin Madame Rose V.

 

Man schrieb, als sich die Begebenheit zutrug, von der ich berichten will, das Jahr 1944. Madame V. war damals 55 und längst mehrfache Mutter. Der Zweite Weltkrieg befand sich auf seinem blutigen Höhepunkt und Frankreich fest in deutscher Hand. In jenem Frühling regten sich aber die Kräfte des französischen Widerstands, der berühmten Résistence, im Untergrund besonders lebhaft, denn es ging die Kunde von einer Invasion der alliierten Streitkräfte, die bald stattfinden und der deutschen Herrschaft ein Ende bereiten werde.

 

Am Morgen des 20. April 1944 war meine Urgrossmutter mit dem Fahrrad von A nach B unterwegs, im Elsass, wo sie mit ihrer Familie zu Hause war. In der Fahrradtasche hatte sie Material, das sie im Nachbardorf einem Mitglied der Résistence abliefern musste.

 

Worum es sich genau handelte, weiss ich nicht, vielleicht eine Auflistung der Besatzungstruppen in der Region, der Plan eines deutschen Verteidigungsdispositivs oder die Namen aller Offiziere im Divisionsstab. Jedenfalls Material, mit dem sie sich nicht erwischen lassen durfte, da sie sonst als Spionin vor ein Erschiessungskommando der Wehrmacht gekommen wäre.

 

Jäh stoppte eine Strassensperre ihre flotte Fahrt. Ein deutscher Soldat mit geschultertem Gewehr und ein Offizier in Reitstiefeln nahmen sie beim Schlagbaum in Empfang.

 

«Bonjour, Madame. Absitzen bitte. Wir müssen Ihren Ausweis sehen», sagte der Offizier höflich, aber bestimmt. «Und was haben Sie in Ihrer Tasche?»

 

Meine Urgrossmutter durchströmte es abwechselnd heiss und kalt. Wenn man die Unterlagen in ihrer Tasche finden würde, wäre es aus mit ihr, daran hegte sie keinen Zweifel. Äusserlich gefasst und innerlich bebend überreichte sie dem Mann ihren Ausweis. «Bitte sehr, Herr Offizier.»

 

Er studierte das Dokument. Plötzlich heiterte sich seine dienstliche Miene sichtlich auf. Munter sagte er zum Soldaten: «Sieh an, Walter, die Mutter hat ja dasselbe Geburtsdatum wie unser Führer! Derselbe Tag, dasselbe Jahr. Der 20. April 1889. Und exakt heute ist Führers Geburtstag. Das muss gefeiert werden! Wir lassen die Frau ziehen, ohne sie zu filzen.»

 

«Jawohl, Herr Leutnant», sagte der Landser und öffnete die Schranke. Der Offizier winkte meine Urgrossmutter durch. «Sie können passieren, gute Fahrt», sagte er, während sein Untergebener die Hacken zusammenknallte, den Arm grüssend ausstreckte und zackig rief: «Heiltler!»

 

Gravitätisch rauschte Rose V. auf ihrem Fahrrad an den beiden Wehrmacht-Männern vorbei und war schon bald ihren Blicken entschwunden. So hat sie es uns mehrmals erzählt, und wir zitterten immer von Neuem mit. Am selben Tag zur Welt gekommen zu sein wie der «Führer», mag ja nicht gerade ein Vorzug sein. Meiner Urgrossmutter hat es aber das Leben gerettet.

 

Nach dem Krieg kehrte sie, nunmehr als Witwe, in die Schweiz zurück. Hier, in ihrer Heimatstadt und im Schoss ihrer angestammten Familie, verbrachte sie ihre späten Tage, als Grossmutter und dann auch als Urgrossmutter. Um ihre Rente aufzubessern, trug sie das damals sehr beliebte «Gelbe Heft» von Ringier aus, per Fahrrad und immer mit Baskenmütze.

 

Sie lebte in einer Mietwohnung in der unteren Altstadt – rundum zufrieden, auch wenn ihre Mittel bescheiden waren. Einen Fernseher jedoch hatte sie dem Rest der Familie voraus, einen Schwarzweiss-Apparat, auf dem ich immer am Mittwochnachmittag die legendäre Kindersendung «Das Spielhaus» sehen durfte. Manchmal bot sie mir aus einer golden glänzenden Blechdose ein Bonbon an, und auf einer Kommode stand das ebenfalls golden umrahmte Porträtfoto eines dunkelhaarigen, gut aussehenden jungen Mannes.

 

Dieser Mann war Onkel Georges, der Sohn meiner Urgrossmutter. Sie erzählte viel von ihm. Gelernt hatte er Matrose. Ich fand das abenteuerlich und konnte es kaum glauben, dass wir einen Seemann in der Familie hatten. Beziehungsweise gehabt hatten. Onkel Georges lernte ich nie persönlich kennen. Er war im Krieg umgekommen, auf einem torpedierten Schiff der französischen Handelsmarine.

 

Es gäbe noch viel zu schreiben, aber an dieser Stelle muss ich aufhören. Sonst wird aus meinem Blogeintrag noch ein ausgewachsenes Buch.