Ich habe Elvis gesehen

Meine Heroen hiessen schon immer Emerson, Lake and Palmer. Deep Purple. Pink Floyd. Led Zeppelin. Janis Joplin. Elton John. Queen. Die Beatles. Van Halen. Die Rolling Stones. Guns n’ Roses. Einer aber gehörte nicht zu meinem musikalischen Pantheon: jene Bühnengestalt im weissen Overall mit dem hohen, spitzen Kragen, den aufgenähten Pailletten und dem überbreiten Gürtel – ihr wisst schon, der Sänger aus Memphis mit den gesträubten schwarzen Koteletten und der tremolierenden Stimme.

 

Nein, mit Elvis konnte ich nie viel anfangen. Ich kannte seinen «Jailhouse Rock», immerhin eine flotte Musiknummer mit bluesigem Dreck, und das schmalzig-melancholische «In The Ghetto», das die alte Jukebox regelmässig um 2 Uhr morgens in der Bar spielte und das um diese Zeit immer so schön nach sanftem Juniregen und nassem Asphalt tönte.

 

Aber sonst? Sonst liess mich Elvis kalt. Und für jene, die von sich sagten, sie seien Elvis-Fans, hatte ich lediglich ein höfliches Nicken übrig, das in Wahrheit ein verständnisloses Kopfschütteln bedeutete.

 

Bis… ja, bis ich mein Erweckungserlebnis hatte. Seither bin ich bekehrt. Es ist noch ganz frisch. Es geschah vor wenigen Tagen, als ich mir aus einer Laune heraus Engelberts Version der Kuschelballade «Release Me» auf YouTube zu Gemüt führte. Eine schöne Stimme und eine runde Leistung, unbedingt. Und brillant vor allem in der letzten Strophe, wenn Engelbert die Melodie von der ursprünglichen Lage dramatisch und zugleich mühelos in eine höhere Tonart schraubt.

 

Beim weiteren Herumstöbern auf dem Portal entdeckte ich, dass sich seinerzeit auch Elvis dieses Songs angenommen hatte. Neugierig klickte ich das Video an; es stammte von einem Auftritt in North Carolina 1972. Der King war damals 37-jährig und bereits merklich von seinen Krankheiten und der übermässigen Einnahme von Medikamenten gezeichnet. Blass, etwas aufgedunsen und verstrubbelt stand er auf der Bühne vor seinen Musikern, in einem blauen, strassbesetzten Hosenanzug und einem lächerlichen Cape wie ein Jahrmarkt-Superman.

 

«Release Me», kündigt der Sänger beiläufig und leise, fast ein wenig erschöpft den Song an. Die Band spielt vier Takte Intro, stilistisch viel Country, etwas Schunkel-Boogie und ein Schuss Blues. Elvis tupft sich mit seinem weissen Schal den Schweiss vom Gesicht, igitt. Hebt das Mikrofon an den Mund, beginnt zu singen.

 

Und da geschieht es. Wie ein elektrischer Stoss fährt es mir ein. Der Mann auf der Bühne verströmt die reinste Magie, die sich von einem Moment auf den andern in ihrer ganzen Fülle offenbart. Diese Innigkeit, diese Authentizität, dieses Charisma, dieses entrückte, geradezu metaphysische Lächeln, das hin und wieder aufleuchtet… und diese Stimme!

 

Elvis singt weniger brillant als Engelbert. Aber er singt echter und mit urwüchsiger Kraft, weil er den Song nicht bloss interpretiert – er IST der Song. Diese süssliche und im Grunde geschmacklose Schnulze wird durch ihn und dank ihm zur feierlichen Hymne erhoben, zu einem Hohelied auf den belebenden Geist der Musik. Elvis hat auf einmal gar nichts mehr von einem Lametta-Entertainer; er ist zu einer archetypischen Gestalt geworden, zum Urbild des singenden Menschen, ja zum Halbgott der Lyra und des Gesangs, zu Orpheus, der mit seiner Kunst einst Götter, Menschen und Tiere betörte.

 

Und so gesteh ich’s denn, ich ehemaliger Unempfänglicher: Orpheus alias Elvis hat auch mich betört, 43 Jahre nach seinem Tod, via Computerbildschirm und einer schlechten Aufnahme. Ich habe eine Art Wunder erlebt. Jetzt weiss ich, warum Elvis der King ist. The king is dead, long live THE KING!