Der geheime Schatz des Schützen

Seit ein paar Tagen dominiert ein seltsames Phantom unser Familienleben: die Bürgi-Scheibe. Immer wieder erwähnen meine beiden Jungs die Bürgi-Scheibe, beim Essen, wenn ich lese, wenn ich schreibe, wenn ich im Garten arbeite, wenn ich mich schlafen lege… «Wann packst du das spiessige Ding endlich aus?», fragen sie spöttelnd.

 

Die Bürgi-Scheibe ist eine Trophäe in Form einer Wappenscheibe, die ich als ehemaliges Mitglied der Burgdorfer Pistolenschützen einst erkämpft habe, vor gefühlten hundert Jahren. Ich war damals Sportschütze, auch wenn es für jene, die mich als Schöngeist kennen, befremdlich anmutet. Mit der Pistole verstand ich nicht schlecht umzugehen, war wohl ein Naturtalent – obwohl ich lieber ein Naturtalent auf dem Klavier wäre – und errang durchaus den einen und anderen Preis.

 

Um genau zu sein, waren es sogar ziemlich viele Preise. Ich bewahre die Zinnbecher und Kranzabzeichen noch immer auf. Würde ich mir alle Plaketten an die Brust heften, sähe ich prächtiger aus als ein russischer General mit all seinen Orden. Ich habe mir sogar schon überlegt, einmal in diesem kriegerischen Schmuck auf unserer monatlichen Redaktionskonferenz in Zürich zu erscheinen. Die würden schön staunen, die Journalisten aus der grossen Stadt, über die folkloristische Aufmachung ihres Emmentaler Kollegen…

 

Nun gut, ich bin schon lange kein Schütze mehr. Anderes ist mir wichtiger geworden (und war es wohl schon immer). Und die Bürgi-Scheibe liegt noch immer in ihrem Karton gut versteckt in meinem Wandschrank. Seit mindestens dreissig Jahren. Wie das Glasbild aussieht, weiss ich nicht. Ich habe es nie ausgepackt.

 

Den Stifter, Herrn Bürgi, würde das wohl schmerzen, wenn er es läse, aber so ist es nun einmal. Was soll ich mit einer Wappenscheibe anfangen? Wappenscheiben habe ich als Kind oft als Fensterschmuck in gutbürgerlichen Wohn- und Arbeitszimmern gesehen, manchmal viele aufs Mal, nebeneinander, übereinander und untereinander, sodass es fast aussah wie in einer profanen Kirche.

 

Jüngst erzählte ich meinen Söhnen von dieser Scheibe. Dass sich ein Exemplar in meinem Besitz befinde, ich aber keine Ahnung hätte, wie das begehrte Stück aussehe. Das nun finden die beiden Jünglinge höchst amüsant. Seither ziehen sie mich damit auf und liegen mir in den Ohren, die Scheibe endlich auszupacken und der Familie zugänglich zu machen.

 

Soll ich? Ich habe sie aus dem Schrank hervorgeholt. Nun liegt sie auf meinem Schreibtisch. Sie steckt noch immer in ihrem Karton. Ich versuche mir das Sujet vorzustellen. Weit komme ich nicht. Das Burgdorfer Wappen? Das Schloss? Eine altertümliche Pistole? Allenfalls käme noch ein zielender Soldat mit wehenden barocken Straussenfedern auf dem breitkrempigen Hut in Frage.

 

Jetzt ist meine Neugier aber doch geweckt, nach dreissig Jahren. Ich öffne den Kartonverschluss, fasse die Scheibe vorsichtig am kühlen Metallrand, ziehe sie langsam hervor und ans Tageslicht…

 

Was denkt ihr, was darauf zu sehen ist? Ihr möchtet sie hier natürlich abgebildet sehen. Aber sorry, das geht nicht. Ist leider ein Hochformat, was meinem Bildkonzept widerspricht. Ein Beschrieb möge genügen: Die Scheibe zeigt in stilisierter Form eine Ansicht der Burgdorfer Unterstadt mit Blick auf die Staldenbrücke und die Kirche. Die dominierenden Farben sind Rot und Grün. Das Schloss ist nicht drauf, ich habe mich geirrt. Aber nur ein bisschen.

 

Nun ist es also gelüftet, das Geheimnis der Bürgi-Scheibe. Soll ich sie wieder im Karton verstauen? Nein, sie darf noch ein Weilchen unverpackt auf dem Schreibtisch liegen bleiben. Ich könnte sie ja sogar aufhängen. Nein, lieber doch nicht. Oder doch? Soll ich? Soll ich nicht? Soll ich? Soll ich nicht? Ich werde eine Münze werfen. Und dann das verdammte Ding, ungeachtet des Resultats, aufhängen. Denn dazu ist es ja da.