Derrick und die gequälten Seelen

Kürzlich wollte ich mir nach langer Abstinenz wieder einmal einen «Tatort» ansehen. Nach zehn Minuten klickte ich weg. Mich ödeten diese abnormal auf normal getrimmten, dauergereizten und ausgebrannten Ermittler an. Leute im ausklingenden mittleren Alter, die vom Berufsleben nicht mehr viel zu erwarten haben ausser Stress, Routine, Desillusion, Frustration und Melancholie.

 

Aber was ist denn so schlecht daran, die Realität des Alltags hautnah zu zeigen? Das kennen wir doch alle irgendwie, oder nicht? Und können uns als Zielgruppe ü50 mit diesen Figuren – so das Kalkül der Macher – sicher bestens identifizieren.

 

Falsch kalkuliert. Ich jedenfalls erkenne mich in solchen Inszenierungen nicht wieder. Mich nerven sie bloss. Zumal man sich in diesen zeitgemässen Krimis auch noch ausgiebig mit dem vertrackten Privatleben der Kommissarinnen und Spurensicherer befassen muss, was dem Schwung der Story sehr abträglich ist.

 

Um mich schadlos zu halten, führte ich mir nach dem abgebrochenen «Tatort» eine alte Folge von «Derrick» zu Gemüt. Dieser Klassiker befriedigte mich wie immer restlos. Auch wenn er offenkundige Mängel hat: Die Dialoge sind oft seltsam verkrampft, die Figuren überzeichnet, die Situationen unwirklich. Aber das stört mich nicht. Es wirkt inszeniert im besten Sinn – inszeniert wie ein Gottesdienst in der Kirche, untermalt mit schwerblütiger Musik von Frank Duval. Genau das ist es nämlich, wonach mir der Sinn steht: Wenn ich am Sonntagmorgen schon nicht sehr oft in die Kirche gehe, will ich wenigstens am Abend vor dem Bildschirm mein spirituelles Erlebnis haben.

 

Das heilige Spektakel beginnt stets mit dem rituellen Menschenopfer. Da diese Opferhandlung aber verboten und verworfen ist und somit alles andere als geeignet, irgendeine Gottheit milde zu stimmen, muss der böse Opferpriester, also der Mörder, vom guten Ermittlungspriester, sprich von Inspektor Derrick, aufgespürt und aus dem Verkehr gezogen werden.

 

Seiner Rolle als weltlicher Priester wird Derrick in schönster Weise gerecht. Er lebt zölibatär, kleidet sich gediegen, bewegt sich würdevoll, spricht feierlich und unterstreicht seine Rede mit sparsamen, segnenden Gebärden. Sein Tränensack-Blick verströmt die unerschütterliche Ruhe des Beichtvaters. Er lässt sich nicht von Emotionen hinreissen, er kennt nur die Pflicht. Er ist tiefgläubig, er glaubt an das Gesetz. Zugleich ist er weise und weiss, dass auch das Gesetz nicht immer für Gerechtigkeit sorgt. Ihm zur Seite steht ein dienstfertiger Hilfspriester: der sympathische Assistent Harry Klein, der die Liturgie äusserst diskret mitgestaltet und immer zur Stelle ist, wenn er die Bischofskarosse vorfahren soll.

 

Pater Derrick bringt den gequälten Seelen Erlösung. Die Missetäter, denen er ein Geständnis abringt, wirken hinter der schockierten Fassade immer auch erleichtert, weil sie wissen: Jetzt bin ich überführt, jetzt hat das Böse keine Macht mehr über mich, jetzt kommt nach der Beichte die Läuterung. Jetzt wird die wunde Seele heil.

 

Auch ich als Zuschauer fühle mich nach einem «Derrick» geläutert. Es ist vergleichbar mit der Katharsis, dem Effekt der seelischen Reinigung, den man im alten Griechenland beim Betrachten eines sakralen Dramas erfuhr. So müsste eigentlich auch der «Tatort» am Sonntagabend sein: eine läuternde Messe mit einer würdigen Priesterschaft, nicht eine Rocky Horror Picture Show mit Polizisten, die genau genommen selber hinter Gitter gehören.