Plädoyer für ein altes Kulturgut

«Ohne Religion wäre die Welt ein besserer Ort.» Diesen Ausspruch höre ich immer wieder, meist von Leuten, die davon wenig Ahnung haben. Darauf kann ich nur antworten: Blödsinn. Die Welt wäre besser, wenn man sich auf die Religion besinnen würde. Und das, was sie zu sagen hat, nicht nur hören, sondern auch beherzigen würde.

 

Gerade in den westlichen Gesellschaften bricht das Religiöse in immensem Tempo grossflächig weg. Man hält es für gesellschaftlichen Fortschritt, in Wahrheit aber ist es ein riesiger Verlust.

 

Und weil es ohne Religion doch nicht ganz geht, hat man sich Ersatzreligionen geschaffen. Eine davon ist die hochmütige Moral. Sie sagt: Wer den Zeitgeist missachtet, sich der Philosophie der uneingeschränkten Machbarkeit verschliesst, wer vielleicht einzelne wissenschaftliche Studien in Frage stellt oder auch mal eine sachlich falsche Meinung vertritt, ist nicht einfach anderer Ansicht oder im Irrtum, sondern böse. Und, noch schlimmer, «dumm». Dumm zu sein, gilt als die grösste Sünde der heutigen Zeit.

 

Wer dumm ist, bestimmen natürlich die Besserwisser. In ihrer Welt gehören die «Dummen» gemassregelt, angeprangert und ausgestossen. Für vermeintliche oder echte Irrläufer hat es in unserer Gesellschaft der Superklugen keinen Platz.

 

Solche Tendenzen hat es schon immer gegeben. Seit 2000 Jahren hält die christliche Religion ein Gegenmittel bereit. Sie ermahnt zu ehrlicher Selbstbesinnung und fordert jeden Einzelnen auf, zuerst einmal die eigene Unvollkommenheit anzuerkennen. Wer sich selbst mit seinen Schwächen annimmt, nimmt auch andere mit ihren Schwächen an.

 

«Warum siehst du den Splitter im Auge deines Bruders, aber den Balken in deinem Auge bemerkst du nicht? Oder wie kannst du zu deinem Bruder sagen: Lass mich den Splitter aus deinem Auge herausziehen! - und siehe, in deinem Auge steckt ein Balken! Du Heuchler! Zieh zuerst den Balken aus deinem Auge, dann kannst du zusehen, den Splitter aus dem Auge deines Bruders herauszuziehen!»

 

Diese Sätze stammen aus dem Neuen Testament. Den Gläubigen gelten sie als göttlich inspiriert und daher geschützt vor menschlicher Relativierung. Die Bibel ist voll von solchen Sätzen. Sie würden uns zu besseren Menschen und die Welt zu einem besseren Ort machen. Aber Religion ist anspruchsvoll. Sie verlangt etwas von uns. Nämlich, über unseren eigenen Schatten zu springen. Dass es bis jetzt nie wirklich geklappt hat, liegt nicht an der Religion, sondern an uns Menschen.