Wenn das Neue das Alte verschlingt

Bäume umgaben das alte Sandsteingebäude, Sträucher und Stauden. Es war schon längst kein gepflegter Garten mehr, sondern eine Wildnis aus Ahorn, Eibe, Geissblatt, Linde, Rosskastanie, Brombeere, Grosser Klette und anderem mehr. Dicht am öffentlichen Fussgängerweg, der an der Liegenschaft vorbeiführt, stand eine stattliche Stechpalme, deren Blüten im Mai balsamisch dufteten.

 

Vögel nisteten und zwitscherten in dieser Oase, Bienen summten, Hummeln brummten, Schmetterlinge tanzten, und wenn es frisch geregnet hatte, entstieg dem Grün ein herrlicher Duft nach feuchter Erde und Laub. Beherrscht wurde der kleine Dschungel von einem stattlichen Mammutbaum, einem Exoten, der wie eine Pagode aufragte und dem Anwesen eine ganz besondere Aura und Majestät verlieh.

 

Neulich kamen die Maschinen. Sie sägten, frästen und rasierten alles weg. Es ging schnell. Heutige Technik ist effizient. Innert weniger Tage waren die Bäume und Sträucher, die zum Wachsen Jahre und Jahrzehnte gebraucht hatten, weg.

 

Rund um die alte Sandsteinvilla breitet sich jetzt ein Feld der Verwüstung aus. Übrig geblieben sind bloss Strünke, ein paar Äste und viel nackte Erde. Das gefällte Holz wurde, ebenfalls schnell und effizient, mit Lastwagen und grossen Anhängern weggekarrt.

 

Hier fahren demnächst die Baumaschinen auf, was denn sonst. Ab 2026 werden zwei moderne Gebäudekörper mit insgesamt 50 Wohnungen das alte Haus flankieren, bewachen, einengen, bedrängen, gewissermassen mit Handschellen in eine neue Zukunft führen. Und ihm die Würde nehmen – so kommt es mir jedenfalls vor.

 

Vielleicht werde ich, wenn fertig gebaut ist, meine Meinung ändern. Vielleicht werden sich die neuen Häuser wider Erwarten ganz gut ausnehmen und mit der sanierten Villa harmonieren. Man kann nie wissen. Eines aber weiss ich schon jetzt: Was gut ist für das Steuersubstrat, ist für die Natur meist schlecht.

 

Bei diesem Projekt, dessen Voranschreiten ich jeweils auf meinem Arbeitsweg beobachten kann, handelt es sich um die Überbauung Schlössli beim Bahnhof Burgdorf. Überhaupt werden in der «grünen Stadt» neuerdings auffallend viele alte Gärten plattgemacht, dann mit möglichst mächtigen Wohnkästen über- und grossen Tiefgaragen unterbaut. «Verdichten» nennt man das. Oder Menschen in Beton und Glas zusammenpferchen, je nach Standpunkt.

 

Dass den neuen Bauten alte Gärten weichen, mag gerade noch angehen. Lasst mir aber die Finger von meinen geliebten und wunderschönen Wäldern in der Umgebung. Sollte sich die Stadt eines Tages in diese Sphäre hineinzufressen beginnen, werde ich, dannzumal vielleicht schon 80 oder 85, erstmals in meinem Leben militant und organisiere den Widerstand. Wir Senior-Mohikaner werden uns in die Wälder schlagen und diese verteidigen. Mit allem, was uns zu Gebote steht – mit Haut und Haar, Stock und Stein, Pfeil und Bogen.